Oktobergedanken

Von Erich Schaffner

Geschafft! Die Partei der deutschen Arbeiterklasse ist eingenullt. Aus? Vorbei? Der Dialektiker schmunzelt. Denk doch mal nach, Otto! Der ganze Wahlzirkus, tausend Talkshows, Millionen vom Profitkuchen abgezwackte Partei- „Spenden“ – besser: Entgelte für Dienstbarkeiten – Schaukampfinszenierungen, eine Walze von Leitartikeln, kurz, der bürgerlich-parlamentarische Jahrmarktsrummel, der gleichwohl von allen Demokraten verteidigt werden muss gegen dessen Abbau, der ganze Kram wird doch eigentlich nur wegen der Partei der Arbeiterklasse betrieben. Ok, mit dem Parlament lässt sich auch Streit zwischen den Kapitalfraktionen im Zaum halten, aber letzten Endes gibt’s den Rummel nur, weil er dauerhafter als die offene Repression Revolutionen verhindert. Der Oktober 1917 hat den Herrschaften das Gliederzittern beigebracht – eine über ein Jahrhundert anhaltende Angstpsychose, nicht weg zu kriegen, auch nicht mit Billionen für „Chirugische Instrumente“ wie strategische Bomber und Flugzeugträger. Wladimir Majakowski 1927: „Drum weiß der Bourgeois mit dem gierweiten Rachen: wenn sein Vöglein die Krallen in Russland verfing, dann hat sein Vöglein, bei Gott, nichts zu lachen.“ Der Rote Oktober 17 wirkt noch immer! Die Ärzte am Krankenbett, die Sozialdemokraten, üben sich nach 100 Jahren wieder in rauer Revoluzzerstimme. Sie holen die roten Krawatten hervor, setzen die Designer-Ballonmützen auf und brüllen: „Mehr Gerechtigkeit!“ Manche von uns befällt der Zweifel: Was ist aus dem Oktober geworden? Zweifel ist gut, er befördert das dialektische Denken, „doch wenn der Hahn der Flinte knackt, dann miteinander zugepackt und nicht den Nebenmann verlieren!“ (Erich Mühsam).

Was ist aus dem Oktober geworden? In den späten 80ern berichtete ein Genosse, der beruflich längere Zeit in Moskau tätig war: Das wird nichts mehr, das kannst du getrost vergessen. Keinerlei revolutionärer Elan mehr zu spüren … Gesetzt, es war so, wie kommt das? Der Dialektiker schmunzelt wieder: der Klassenkampf war für die Sowjetbürger nicht mehr am Leib zu spüren. Kein Bourgeois war mehr da, nur noch außerhalb des sozialistischen Lagers. Von dort sorgte der Bourgeois, dass es dem Sowjetbürger nicht zu wohl werde. Neue Widersprüche hatten die alten ersetzt. Lösbar fast alle, aber vielleicht nur mit der Entfaltung größerer Demokratie, Debatte, Leidenschaft.

Kleiner Sprung in die Gegenwart: Neulich habe ich etwas Grandioses erlebt: die Partei hatte die Bürger zum Protest gegen Straßenbeiträge aufgefordert. Über hundert kamen und bildeten eine Bürgeraktion. Als es darum ging, die Verteilung der Flugblätter zu koordinieren, wirbelten alle durchein­ander. Selbsttätig entfaltete sich ein scheinbares Chaos und nach kurzer Zeit war alles organisiert. Da war sie, die Initiative, die Intelligenz der Massen, die wenigsten waren Kommunisten: das Volk. Es war wie auf einem Bild aus revolutionären Tagen. Ein neues Tempo brach herein. Dieser Elan war dem Sowjetvolk wohl abhanden gekommen, neue Generationen waren nachgewachsen, hatten sich gegen das Alte zu behaupten, wie das so ist … Aber auch das ganz Alte wirkte noch nach: Raissa Gorbatschowa berichtete „Bild“, sie habe ihre Kinder heimlich taufen lassen.

Auch ein sozialistischer Staat sollte sich nicht zu hoch über die Massen erheben. „Es rettet uns kein höh‘res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun.“ Die Partei muss denken, lenken, aber in stetem Kontakt mit den Tätigen, am besten Wissenden, weil in der MATERIE Steckenden. Als ich im Januar die erste Veranstaltung zur Oktoberrevolution mit Liedern und Texten begleitete, war mein Programm noch nicht fertig – so etwas braucht mindestens ein halbes Jahr. Ich bat die Hamburger Genossinnen und Genossen um Kritik. Das habe ich auch an anderen Orten beibehalten. Die Konsumenten sind froh, wenn sie ihre Gedanken einmal loswerden und am Entstehen eines Werks teilhaben können. So verschwindet der Starkult, der durchaus auch unseren Reihen nicht gänzlich fremd ist. Mehr dazu mündlich. Manfred Jansen, der Stuttgarter, hat einen 500-seitigen Wälzer über den erfolgreichen Kampf seiner Belegschaft geschrieben. Und die Quintessenz: der Erfolg lag in der ständigen Beteiligung der Betroffenen an allen Entscheidungen – und wenn eine Betriebsversammlung eine Woche dauerte. Ich nehme ein paar seiner Bücher mit zu den nächsten Auftritten. Immer wieder wurde die Stalinzeit angesprochen und unterschiedlich beurteilt. Auch da ist die Zeit reif für eine ausführliche Beschäftigung. Die Lügen und Übertreibungen der Bourgeoisie müssen widerlegt werden, aber was bleibt ist noch heftig genug. Peter Passet, der knorrige Walldorfer Genosse, sagte 68 in einer Versammlung zu dem sowjetischen Botschaftsrat Bogomolow: „Ich war auch 16 Monate in sowjetischer Lagerhaft“ – er hatte damals in der SU gelebt –, „ich trage das der Sowjetunion nicht nach …“ Ich habe die Worte noch genau im Ohr. Der Kommunist wurde nach Kriegsbeginn ins Nazideutschland abgeschoben und hatte Glück, er konnte unbehelligt nach Hause, wurde erst später bei Opel denunziert und reiste dann durch die KZ. Ein anderer ehemaliger Mörfelder wurde direkt an der Grenze der Gestapo übergeben. Er hat danach lange geschwiegen, wurde als vermeintlicher Agent von den Genossen misstrauisch beäugt, die Kreisleitung hatte ihn zum Schweigen bewegt. Er blieb der freundliche alte großväterlich gütige Genosse, aber eine leise Trauer blieb in seinem Wesen und er war froh, wenn er später darüber reden konnte. Ein dritter Mörfelder hat die sowjetische Lagerhaft nicht überlebt. Wir brauchen uns um die Stalinschen Repressionen nicht herumzudrücken. Stalin ist nicht der Kommunismus. Der Kommunismus ist das Ende (!) der Verbrechen und Stalin hat wohl zum Sieg des Sozialismus über den deutschen Imperialismus beigetragen, zur rasanten Industrialisierung eines rückständigen Landes, aber hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Es war das ganze Sowjetvolk, das Hitler das Genick brach!

Vielleicht spielt auch die Psychologie eine größere Rolle als wir bisher wahrgenommen haben?

Im Anfang der Arbeit an dem Programm war ich auf mein Wissen und Meinung und auf Majakowskis Oktoberpoem „Gut und Schön“ angewiesen, mit dem ich 1977 auf Tour war. Gelesen habe ich seitdem noch immer nicht genug. Aber mittlerweile wird die Oktoberrevolution und ihre Wirkung in der Geschichte in etlichen Büchern und auf Konferenzen breit debattiert. Das ist gut!

Nullkommanull Prozent, Grund für ein befreiendes humoriges Gelächter … „Frischauf mein Volk, mit Trommelschlag im Zorneswetterschein. O wag es doch nur einen Tag, nur einen, frei zu sein. Und ob der Sieg bei Sternenlicht dem Feinde schon gehört, nur einen Tag, es rechnet nicht, ein Herz, das sich empört.“ (Georg Herwegh) Der erste große Versuch dauerte immerhin über 70 Jahre. Der Imperialismus weiß, was für ihn auf dem Spiel steht. Er kennt die Gefahr für ihn besser als das deutsche Proletariat.

Ach so, warum das Programm „Lenin, Majakowski und ich“ heißt? In einem Majakowski-Gedicht heißt es: „Zwei sind im Zimmer, ich und Lenin, er als Foto an weißer Wand.“ Es ist kein Größenwahn, der aus dem Titel spricht. Wir, ich, wie jeder Mensch, sollten unser Verhältnis zum roten Oktober gründlich reflektieren. Er prägt Gegenwart wie Zukunft. Wir arbeiten am nächsten Anlauf.

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"Oktobergedanken", UZ vom 6. Oktober 2017



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