Türkei: Regierungspartei AKP bei Kommunalwahlen abgestraft

Ohrfeige für Erdogan

In der Türkei sind am 31. März in allen 81 Provinzen neue Kommunalvertreter gewählt worden. Das Abstimmungsergebnis ist eine Ohrfeige für Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seine islamistische AKP-Partei, die an jenem Sonntag ihr schlimmstes Wahldebakel seit zwei Jahrzehnten erlebte.

Die oppositionelle kemalistische CHP ist mit 37,8 Prozent landesweit auf Platz 1 gekommen, das erste Mal seit 47 Jahren. Sie regiert fortan in 35 Provinzen, hat neben der Millionenmetropole Istanbul und der Hauptstadt Ankara zwölf weitere Großstädte gewonnen. Die AKP dagegen ist mit 35,5 Prozent auf Platz 2 gelandet und hat nur noch in 24 Provinzen einschließlich zwölf Großstädten die Mehrheit. Die faschistische MHP, inoffizieller Koalitionspartner der Erdogan-AKP in der Nationalversammlung, erhielt landesweit im Schnitt knapp 5 Prozent, hat aber in acht Provinzen gewonnen, allerdings in keiner Großstadt. Die MHP-Abspaltung Iyi Parti (Gute Partei) hat 3,8 Prozent und kann in der Provinz Nevsehir im Zentrum des Landes mit 52 Prozent regieren. Die ebenfalls islamistische Neue Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi) erzielte 6,1 Prozent. Sie regiert in einer Großstadt und einer weiteren Provinz. Die linksgerichtete Dem Parti, die Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker, ist auf 5,7 Prozent gekommen. Sie regiert in sieben Provinzen und drei Großstädten. Die Wahlbeteiligung war auf 78 Prozent zurückgegangen. Bei der letzten Kommunalwahl vor fünf Jahren waren es noch 84,6 Prozent, bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 sogar rund 89 Prozent.

In Istanbul, der größten Stadt der Türkei, setzte sich der amtierende Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der CHP durch. Er erhielt 51,2 Prozent der Stimmen und lag damit fast zwölf Punkte vor seinem AKP-Herausforderer Murat Kurum mit 39,6 Prozent. Umfragen hatten zuvor ein enges Rennen vermuten lassen. „Die Zeit der Einpersonenherrschaft ist mit dem heutigen Tag beendet“, sagte Imamoglu nach seinem deutlichen Sieg. Der 53-jährige ehemalige Geschäftsmann wird als künftiger Präsidentschaftskandidat der CHP gehandelt. Streitig machen könnte diesen Kandidatenposten parteiintern Manur Yavas. Der CHP-Kandidat in der Hauptstadt Ankara kam auf 60,4 Prozent, fast doppelt so viel wie AKP-Kandidat Turgut Altinok mit 31,7 Prozent. In der Kurdenmetropole Diyarbakir erzielte die DEM-Politikerin Ayse Serra Bucak Kücük beachtliche 64 Prozent, AKP-Mann Mehmet Hali Bilden kam mit 16,9 Prozent gerade mal auf ein Viertel der Stimmen.

In der osttürkischen Stadt Van war der prokurdische Bürgermeister Abdullah Zeydan nachträglich von der Wahl ausgeschlossen worden. Er war am 31. März mit rund 55 Prozent der Stimmen gewählt worden. Statt seiner sollte der zweitplatzierte Kandidat der AKP, Abdulahat Arvas, der mit 27 Prozent nicht einmal die Hälfte der Stimmen bekommen hatte, zum Bürgermeister ernannt werden. Die lokale Wahlbehörde begründete ihre Entscheidung damit, dass Zeydan vorbestraft sei und darum nicht zur Wahl hätte antreten dürfen – die gleiche Behörde hatte Zeydan aber schon vor Wochen zu der Wahl als Kandidat zugelassen.

Massive Proteste in den mehrheitlich kurdischen Gebieten wie auch in Istanbul erzwangen ein Einlenken der Wahlbehörde, so dass der Kandidat der DEM-Partei schließlich doch zum Wahlsieger erklärt wurde. „Dank des Widerstands des kurdischen Volkes, unserer Freunde und der Demokraten wurde entschieden, das Bürgermeisteramt der (…) Stadt Van an Abdullah Zeydan zu übergeben“, erklärte die Partei am 3. April.

Präsident Erdogan räumte die Niederlage seiner AKP bei den Kommunalwahlen ein, die Stimmenverluste waren ja auch überdeutlich. „Wenn wir einen Fehler gemacht haben, werden wir ihn beheben“, so der Staatschef am Tag nach der Wahl in der Parteizentrale in Ankara. Was Erdogan innerhalb seiner Partei oder in seiner Politik ändern will, ließ er offen. „Dies ist nicht das Ende für uns, sondern ein Wendepunkt“, sagte Erdogan. Was aber tun? Der Autokrat hat das Land heruntergewirtschaftet, nur die Korruption blüht. Seit 2018 geht es wirtschaftlich bergab. Die Landeswährung Lira hat erheblich an Wert verloren. Importe verteuern sich. Die Mindestrente in der Türkei beträgt umgerechnet keine 290 Euro und liegt unter dem Mindestlohn. Die Inflation macht das alltägliche Leben unbezahlbar. Die aktuelle Teuerungsrate ist mit fast 70 Prozent bald so hoch wie die abgesunkene Wahlbeteiligung. Erdogans Wähler, gerade die Älteren, sind in Scharen zuhause geblieben. So konnte die CHP auch in konservativen Städten und Dörfern in Anatolien und in der Nähe des Schwarzen Meeres, die zu Erdogans Kernland gehören, Siege verbuchen.

Indes, Wahlverlierer Erdogan könnte durch den Sieg der Opposition mittelfristig gewinnen, verliert die Türkei dadurch doch im Ausland das Manko der Autokratie. Die nächsten regulären Wahlen zur Nationalversammlung und das Präsidentenamt finden erst 2028 statt. Das ist noch lange hin. Die Europäische Union hat gleich nach den Kommunalwahlen angekündigt, eine engere Zusammenarbeit anzustreben. Die wird es aber mit dem Autokraten in Ankara geben, nicht mit den oppositionellen Wahlsiegern in den Kommunen.

Die Türkei ist seit bald einem Vierteljahrhundert EU-Beitrittskandidat. Die Verhandlungen liegen seit Jahren auf Eis angesichts des autoritär durchregierenden Erdogan. EU-Chefdiplomat Josep Borrell ließ nun über die sozialen Medien mitteilen – und das ist kein Aprilscherz –, die ruhige und professionelle Durchführung der Kommunalwahlen ehre die Türkei. „Grundrechte und Demokratie stehen im Zentrum unserer Beziehungen: Wir freuen uns darauf, gemeinsam an Reformen zu arbeiten, welche die Türkei näher an die EU heranführen würden“, twitterte Borrell weiter. Anderenorts ist schon von einer Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei die Rede. Besiegt ist Erdogan lange nicht.

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"Ohrfeige für Erdogan", UZ vom 12. April 2024



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