Nur noch knapp jeder dritte Betrieb in West- und gerade einmal jeder fünfte Betrieb in Ostdeutschland ist tarifgebunden. Die Aufspaltung der Belegschaften durch Auslagerungen von Betriebsteilen ist eine beliebte Methode der Tarifflucht. Eine andere: Immer mehr Unternehmen haben in ihren Arbeitgeberverbänden nur noch eine OT-Mitgliedschaft (also ohne Tarifbindung).
Von den rund 73 000 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind zur Zeit 443 und damit weniger als 1 Prozent allgemeinverbindlich. Ob Esprit, Edeka oder Amazon: Viele Unternehmen sind nicht mehr in der Tarifbindung und können sich so durch niedrigere Löhne Wettbewerbsvorteile verschaffen.
Auch Real will sich auf Kosten seiner 34 000 Beschäftigten sanieren. Der Konzern fängt bei den Gehältern an und kündigt an, aus dem Tarifvertrag auszusteigen.
Immer weniger Unternehmen sind an den Tarifvertrag gebunden. Das unterstreicht die Wichtigkeit der Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Schon am 15. März 1957 definierte das Oberverwaltungsgericht Berlin die Notwendigkeit, Funktion und Zulässigkeit von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen so: „… dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären ist, wenn ein allgemeines Bedürfnis besteht, gleichartige, dauerhafte und angemessen soziale Arbeitsbedingungen durchzusetzen, den Arbeitsfrieden zu sichern sowie Lohndrückerei und einen nicht tragbaren, von einer widerstrebenden Minderheit bewirkten unlauteren Wettbewerb (Schmutzkonkurrenz) zu beseitigen, durch den unbillige, d. h. weder sittliche noch wirtschaftlich gerechtfertigte Vorteile erlangt werden.“ Außerdem soll verhindert werden, dass etwa das Tarifgefüge erschüttert wird.
Mit Blick in Richtung Bundesregierung bewertete der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, die Absichtserklärung für eine bessere Tarifbindung im Koalitionsvertrag als nicht ausreichend und warnte: „Wir werden nicht zulassen, dass es bei Lippenbekenntnissen bleibt.“ Klar ist aber auch, allgemeinverbindliche Tarifverträge sind Ausdruck der organisatorischen Schwäche der Gewerkschaften. Nur millionenstarke Gewerkschaften sind stärker als Millionäre. Nur kämpferische Gewerkschaften können den Beschäftigten ein Einkommen erstreiten, die Spirale der Schmutzkonkurrenz nach unten aufhalten und Löhne und Renten durchsetzen, von denen sich gut leben lässt.