Der syrische Geflüchtete Amed A. wird mit einem straffällig gewordenen Malier verwechselt und verhaftet. In Haft soll er anschließend sich selbst verbrannt haben. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen JVA-Mediziner wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung.
Der Fall „Amed A.“ erinnert an die bis heute ungeklärten Todesumstände von Oury Jalloh. Die UZ sprach mit Susan Bonath, die sich seit Jahren mit dem Fall „Oury Jalloh“ beschäftigt. Sie arbeitet als freie Autorin unter anderem für die Tageszeitung „junge Welt“.
UZ: Am 7. Januar 2005 verbrannte der Flüchtling Oury Jalloh im Dessauer Polizeirevier. Was ist damals geschehen?
Susan Bonath: Der Sierra-Leoner Oury Jalloh lebte seit sieben Jahren als geduldeter Flüchtling in Deutschland. Die Nacht zum 7. Januar 2005 hatte er in einer Diskothek in Dessau verbracht. Stark alkoholisiert fragte er morgens Ein-Euro-Jobberinnen, ob er mit ihrem Handy telefonieren dürfe. Eine Frau meldete der Polizei einen „aufdringlichen Afrikaner“. Die Beamten brachten ihn aufs Revier. Obwohl der Blutalkoholtest knapp 3 Promille ergab, fesselten sie ihn an Händen und Füßen rücklings auf einer feuerfest umhüllten Matratze.
Dreieinhalb Stunden später schlug der Rauchmelder an. Dienstgruppenleiter Andreas S. soll ihn mehrmals ausgestellt haben, bevor er nachsah. Die Feuerwehr fand 20 Minuten später eine völlig verkohlte Leiche auf einer zu Asche verbrannten Matratze in der gefliesten Schlichtzelle.
UZ: Die offizielle Version lautet, Oury Jalloh habe sich selbst angezündet.
Susan Bonath: Zwölf Jahre hielt Chefermittler Folker Bittmann an der Selbstmordthese fest. Erst Anfang 2017 verwarf er diese. Der Grund: Acht Experten aus den Bereichen Medizin, Brandforensik und Chemie schlossen einen Selbstmord aus. Bereits 2012 fand eine Gerichtsgutachterin am angeblichen Selbstmordfeuerzeug keinerlei Spuren aus der Zelle, stattdessen aber viel tatortfremdes Material. Man hatte das Utensil auch nie in der Zelle gefunden, sondern präsentierte es erst Tage später. Es sei aus einer Asservatentüte gefallen.
Auch die beseitigten Beweise sprechen für sich, darunter Polizeijournale, Matratzenkaufbelege, eine Handfessel, der größte Teil des Tatortvideos. Der Dessauer Richter Manfred Steinhoff konstatierte schon 2008, als er zwei Beamte freisprach, dass Polizisten im Zeugenstand gelogen und die Aufklärung verhindert hätten. Passiert ist ihnen deshalb nichts.
UZ: Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Fall. Wie bewerten Sie die damaligen Ereignisse?
Susan Bonath: Ich habe 2011 mit der Recherche begonnen, tausende Seiten Akten gelesen und den zweiten Prozess gegen den Dienstgruppenleiter Andreas S. in Magdeburg verfolgt. Mein Fazit: Der Fall hätte aufgeklärt werden können. Polizei und Justiz haben das mit allen Mitteln verhindert. Dass es einen Täter geben muss, war zeitig klar. Und die Politik hat zugeschaut. Bis heute kursieren diverse Lügen, die Polizei und Behörden damals in Umlauf gebracht hatten.
UZ: Welche Lügen?
Susan Bonath: Zum Beispiel, dass Jalloh die Frauen sexuell belästigt habe, gar „mit anderen Afrikanern“ gemeinsam. Oder dass am Tatort kein Brandbeschleuniger gefunden wurde. Richtig ist: Es gab keine sexuelle Belästigung und niemand hat den Brandschutt am Tatort untersucht.
UZ: Was werfen Sie Polizei, Justiz und Politik vor?
Susan Bonath: Polizei und Justiz schützen bis heute die Täter. Ein anderer Grund für eine so ungeheuerlich dilettantische Ermittlungsarbeit ist schlicht nicht vorstellbar. Dass die Staatsanwaltschaft 2016 einen Brandversuch vor Pressevertretern veranstaltete, ist einzig dem Druck der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh zu verdanken. Diese hat inzwischen über 100000 Euro aus Spenden in Anwälte und eigene Gutachten investiert.
Ich habe vor Jahren gemutmaßt, dass Oberstaatsanwalt Bittmann vor seiner Pensionierung in diesem Jahr die Fakten auf den Tisch legen würde. Er musste damit rechnen, dass die Initiative nicht aufgeben würde und weiß, dass Strafvereitelung im Amt strafbar ist. Das tat er im April 2017 mit seinem geäußerten Mordverdacht. Doch Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad entzog ihm das Verfahren, ließ es in Halle einstellen. Jetzt prüft er auf Druck der Nebenklage seit einem Jahr die Einstellungsgründe.
Die Landesregierung hat sich mit einem Trick aus der Affäre gezogen. Zwar genehmigte sie Akteneinsicht und ernannte im Juni dafür zwei Sonderermittler. Doch diese dürfen erst tätig werden, wenn die Justiz den Fall komplett eingestellt hat. Das könnte sich noch endlos hinziehen. Der Vorwurf der Verschleppung hat seinen Grund.
UZ: Nicht nur Jalloh kam im Dessauer Polizeirevier ums Leben, sondern auch andere Personen. Welche Erkenntnisse haben Sie zu diesen Fällen?
Susan Bonath: Hans-Jürgen Rose starb 36-jährig nach einem Aufenthalt im Dessauer Revier am 8. Dezember 1997. Ein Anwohner fand ihn 150 Meter neben der Polizeistation vor seinem Haus im Schnee. Rose überlebte seine schweren Verletzungen nicht: Neun Rippenbrüche, abgesplitterte Beckenwirbel, Querschnittlähmung, eingerissene innere Organe. Laut Rechtsmedizin sahen einige Wunden aus wie von Handschellen und Polizeischlagstöcken verursacht. Auf einen Unfall oder Überfall gab es keinen Hinweis, dafür darauf, dass jemand den Verletzten aus einem Kleinbus auf der Straße abgelegte. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen trotzdem ein.
Mario Bichtemann starb ebenfalls 36-jährig am 30. Oktober in einer Zelle an einem Schädelbruch, nachdem er bereits verletzt aufgelesen und 16 Stunden eingesperrt war. Er hatte auch vier gebrochene Rippen und weitere Verletzungen. Im Revier gab es bei allen drei Fällen personelle Überschneidungen. Derselbe Arzt stellte die Gewahrsamstauglichkeit fest. Dienstgruppen- und Revierleiter waren ebenfalls identisch.
UZ: Es gibt in Nordrhein-Westfalen einen Fall, der an die Todesfälle in Dessau erinnert. Im September starb der irrtümlich inhaftierte syrische Kurde Amed A. nach einem Brand in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Kleve. Später stellte sich heraus, dass er wohl den Notruf betätigt hatte, das von der Gegensprechanlage ausgelöste Lichtsignal aber deaktiviert wurde. Halten Sie einen Suizid für glaubwürdig?
Susan Bonath: Ich werde grundsätzlich hellhörig, wenn sofort nach der Tat ohne jeden Beleg von Selbstmord gesprochen wird. Gerade bei Opfern, die einer unterprivilegierten Schicht angehören, also Ausländer, Obdach- oder Erwerbslose, sind Behörden grundsätzlich schnell damit – möglicherweise in vorauseilendem Gehorsam. Damit beschuldigt man das Opfer posthum einer Tat, ohne dass es sich noch wehren könnte.
UZ: Welche politischen Forderungen ergeben sich aus der Reihe an Todesfällen in Polizei- oder Gefängniszellen?
Susan Bonath: Solange die Polizei und Justiz gegen sich selbst ermittelt, wird es weitergehen wie bisher. Es braucht also dringend unabhängige Stellen für solche Fälle, am besten aus einem anderen Bundesland.