Die nationalistische Führung in Pristina schwärmt von Demokratie und Wohlstand, aus dem weiterhin 200.000 Serben und Roma vertrieben sind. Die Ampel-Regierung nennt das „ruhig und stabil“

Oh wie schön ist Kosovo?

Oh wie schön ist Kosovo. Albin Kurti, Chef der albanisch-nationalistischen Regierung in Pristina, kommt aus dem Schwärmen und Schönreden gar nicht mehr heraus. „Kosovo ist das demokratischste Land auf dem Balkan“, behauptete der Regierungschef am 2. Juni in der Talk-Sendung „Meet the Press“ im US-Sender NBC, wenige Tage, nachdem er mit Gewalt albanische Bürgermeister in überwiegend von Serben bewohnten Gemeinden einzusetzen versucht hatte. Im April hatten in drei überwiegend von Serben bewohnten Gemeinden im Norden des Kosovo Wahlen stattgefunden, nachdem die Bürgermeister aus Protest gegen die serbenfeindliche Politik der kosovo-albanischen Führung in Pristina zurückgetreten waren. Die Mehrheit der Bevölkerung boykottierte die Wahlen, die Wahlbeteiligung betrug nur 3,5 Prozent.

Die Bilder gewaltsamer Auseinandersetzungen schließlich, brennender Barrikaden, Dutzender verletzter serbischer Demonstranten und KFOR-Soldaten sind um die Welt gegangen und haben einmal mehr den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien in Erinnerung gerufen und verdeutlicht: Auch 24 Jahre nach dem Einmarsch der NATO-geführten „Kosovo-Schutztruppen“ kommt die Region nicht zur Ruhe, finden die Menschen keinen Frieden. Den kann die NATO nicht stiften, sie steht für den Akt der Aggression. Sie hat die Vertreibung von über 200.000 Serben, Roma und anderen nichtalbanischen Minderheiten aus dem Kosovo zu verantworten. Die NATO ist die Mutter des Konflikts und kann als Teil des Problems schwer die Lösung sein. Das würde eine selbstkritische Aufarbeitung des völkerrechtswidrigen Krieges, der Kooperation mit der albanisch-nationalistischen Untergrundmiliz UÇK, die als Bodentruppe der NATO-Luftwaffe fungierte, und eine Aufklärung von Kriegsverbrechen verlangen. Nichts davon ist absehbar.

Und so kann ein Mann wie Albin Kurti, Chef der nationalistischen Partei Vetevendosje, seinen antiserbischen Furor ausleben und sich in die Konfrontationspolitik des Westens einfügen. „Wir haben in den vergangenen zwei Jahren außerordentliche demokratische und wirtschaftliche Fortschritte gemacht“, sagte er im US-Fernsehen. Und wie? „Wir haben keinerlei Beziehungen zu Russland oder China. Ganz im Unterschied zu Serbien, das eine große Zahl an chinesischen Investitionen hat und große Kooperationen mit Russland im Militär- und Energiebereich.“

„Stiften China und Russland Unruhe oder könnten sie eine konstruktive Rolle bei der Deeskalation der Spannungen zwischen Kosovo und Serbien spielen?“, lautete die unschuldig daherkommende Frage an den Kosovo-Premier. Dessen Land ist aus dem 78 Tage und Nächte währenden NATO-Bombenkrieg, anschließendem Einmarsch von NATO-Besatzungstruppen und der selbstproklamierten Sezession 2008 hervorgegangen. Das Kosovo ist bis heute kein Mitglied der UNO, weil nicht einmal alle EU-Mitglieder die Unabhängigkeit anerkennen.

Russland habe „keinerlei Interesse, dass wir als Land erfolgreich sind“, behauptete Kurti. Warum soll Moskau daran nicht interessiert sein? Weil das Kosovo eine „Erfolgsstory“ für eine NATO-Intervention sei. Und die Autosuggestion des Kosovo-Albaners ging munter weiter: „Und wir sind eine Erfolgsstory für eine wirtschaftliche Entwicklung und demokratischen Fortschritt, die Hand in Hand gehen. … Wir sind ein kleines Land, aber wir sind ein großes Beispiel dafür, dass Wirtschaft und Demokratie gemeinsam wachsen können.“ Der Einzige, der stört: der Serbe. Der Russe. Der Chinese. Und noch viele andere mehr: „Ich glaube, Serbien wird direkt oder indirekt von allen autoritären Regimen unterstützt.“ Das hätte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nicht schöner zusammenspinnen können: Aggression schafft Wohlstand und Demokratie.

Erst am 26. Mai hatte der Bundestag mit den Stimmen von Ampel-Parteien und Union die Fortsetzung des längsten Militäreinsatzes in der Geschichte der Bundeswehr beschlossen. Unverändert bis zu 400 deutsche Soldaten sollen sich ein weiteres Jahr an der NATO-geführten KFOR beteiligen. Kostenpunkt: 6,1 Millionen Euro. Zu den Aufgaben gehören laut Regierungsantrag neben der Unterstützung zur „Entwicklung einer stabilen, demokratischen, multiethnischen und friedlichen Republik Kosovo“ die Unterstützung des Aufbaus der Kosovo Security Force (KSF) als „demokratisch kontrollierte, multiethnisch geprägte Sicherheitsorganisation und anderer Akteure im Rahmen der Sicherheitssektorreform (SSR) als Vorbereitung der weiteren Einbindung in euro-atlantische Strukturen“.

Wenige Tage vor der großen Gewalteskalation hat die Ampel-Regierung die Sicherheitslage im Kosovo als „überwiegend ruhig und stabil“ beschrieben. Auch seien die kosovarischen Sicherheitskräfte grundsätzlich in der Lage, mit sicherheitsrelevanten Situationen in eigener Verantwortung umzugehen. Das Schönschreiben erinnert an die geschönten Lageberichte aus 20 Jahren Afghanistankrieg, an dessen Ende alle überrascht taten, dass die Taliban wieder die Macht im Land übernehmen konnten.

In der Kurti-Diktion begründet auch die Ampel mit Blick auf den Kosovo ihre „Sorge vor vermehrten russischen hybriden Destabilisierungsversuchen im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und den daraus verstärkten Bemühungen, den russischen Einflussbereich auszuweiten“.

So wie die Grünen zu den schlimmsten Kriegstreibern im NATO-Stellvertreterkrieg der Ukraine gegen Russland zählen, so reden sie auch die Lage im Kosovo und den Einsatz der KFOR schön. In der Bundestagsdebatte hat sich Philip Krämer dazu wie folgt zu Wort gemeldet: „Wir müssen anerkennen, dass dieser Einsatz maßgeblich zu einem besseren Leben im Kosovo und auf dem Westbalkan beigetragen hat. Wir müssen anerkennen, dass dieser Auftrag jungen Menschen im Kosovo eine Perspektive ermöglicht, eine Perspektive auf eine Zukunft in einem sicheren Land, eine Perspektive auf eine Zukunft in einem friedlichen Europa. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir als Gesellschaft und Politik anerkennen. Das müssen wir unseren Soldatinnen und Soldaten sagen: Vielen Dank für Ihren Einsatz!“ Der Abgeordnete ist Mitglied im Verteidigungsausschuss, Mitglied in der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat. Man mag ihm die Gnade der späten Geburt zugutehalten. Als sein Grünen-Parteifreund Joschka Fischer als damaliger Außenminister die deutsche Beteiligung am Völkerrechtsbruch 1999 rechtfertigte und die Bundeswehr mit zum Bombardieren von Belgrad schickte, war der Frankfurter Philip Krämer gerade erst sieben Jahre alt geworden. Er muss die Bilder von der Massenvertreibung der Serben aus der Provinz Kosovo und Metochien nicht in Erinnerung haben, von der in Brand gesteckten Roma-Siedlung in Pristina nach dem erzwungenen Abzug der jugoslawischen Armee, wie er im Abkommen von Kumanovo am 9. Juni 1999 von der NATO erzwungen worden war. Die Vereinbarung markierte das Ende des NATO-Bombardements, das vom 24. März bis 10. Juni andauerte und systematisch die Infrastruktur des Landes zerstörte, und sah den Rückzug der jugoslawischen Armee und der serbischen Polizei aus dem Kosovo im Zeitraum von elf Tagen vor. Die im Gegenzug einrückenden KFOR-Truppen waren eigentlich zur Entwaffnung der UÇK verpflichtet. Tatsächlich ließen sie die albanischen Gewaltseparatisten gewähren bei brutalen ethnischen Säuberungen, die zuvor immer der serbischen Führung vorgeworfen worden waren. Weder Albin Kurti noch die Ampel-Regierung wollen heute etwas wissen von den über 200.000 Menschen, die damals um Haus und Hof im Kosovo gebracht wurden und nach wie ohne jede Perspektive auf Rückkehr oder Entschädigung sind – bei einer Gesamtbevölkerung von 1,8 Millionen Menschen im Kosovo übrigens. Es zeugt von ausgeprägtem Rassismus, dass die vielen serbischen Opfer oder Roma, immerhin gut 10 Prozent der Provinzbevölkerung damals, nicht zählen, wenn von „Demokratie“ im heutigen Kosovo geschwärmt wird.

230802 Flucht - Oh wie schön ist Kosovo? - Kosovo - Hintergrund
Serbische Bauern fliehen aus dem Dorf Zhegra im Osten des Kosovo. (Foto: The U.S. National Archives)

Eigentlich ist allen klar, wer im Kosovo zündelt. „Die Maßnahmen der kosovarischen Regierung (…) haben diese Krisenatmosphäre im Norden geschaffen“, lässt sich der US-Botschafter in Pristina, Jeffrey Hovenier, ein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betont, es gebe „ganz klar eine Verantwortung der kosovarischen Behörden für die derzeitige Situation“ durch die Nichteinhaltung eines erst vor wenigen Wochen geschlossenen Abkommens. Doch wirkliche Konsequenzen muss Provokateur-Premier Kurti dennoch nicht fürchten – vom Ausschluss des Kosovo vom NATO-Großmanöver Defender 23 einmal abgesehen. In den strittigen Kommunen sollen so schnell wie möglich Neuwahlen organisiert, die Serben zu einer Beteiligung an der Abstimmung angehalten werden.

Russland äußert sich derweil alarmiert. „Wir unterstützen zweifellos Serbien und die Serben. Wir meinen, dass die legitimen Rechte und Interessen der Kosovo-Serben beachtet und gewahrt werden müssen“, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Das chinesische Außenministerium betonte, hinter der Gewalt stehe das Versagen, den Serben in der Region politische Rechte zu gewähren. China unterstütze weiterhin das Prinzip der Souveränität und territorialen Integrität – ein Seitenhieb gegen den Westen, der dies von Russland im Fall der Ukraine einfordert, aber im Kosovo seit bald einem Vierteljahrhundert negiert.

Zur wirtschaftlichen und politischen Lage des Kosovo
Nach Schätzungen werden etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im informellen Sektor erwirtschaftet. Arbeitsrecht und fairer Wettbewerb werden dadurch untergraben. Den Betrieben fehlen gut ausgebildete Fachkräfte – junges, qualifiziertes Personal verlässt das Land, häufig in Richtung Deutschland.
(Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
Massive soziale und wirtschaftliche Probleme erschweren die Entwicklung des Landes. Zu den großen Herausforderungen zählen die hohe Arbeitslosigkeit (25 Prozent; unter den 15- bis 24-Jährigen knapp 50 Prozent), die schwache Infrastruktur, die geringe Produktivität, die unzureichende Energieversorgung, der unzureichende Zugang zu Finanzdienstleistungen sowie mangelnde Stabilität und mangelnder Anreiz für Investoren. Hinzu kommen gravierende Umweltprobleme, vor allem eine starke Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke, veraltete Industrieanlagen, den Straßenverkehr und das Verbrennen von Abfällen auf illegalen Mülldeponien.
(Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
Männer gehen sehr viel häufiger einer Erwerbsarbeit nach als Frauen (46,6 Prozent versus 12,7 Prozent). 70 Prozent derjenigen, welche eine Arbeit haben, verfügen nur über einen befristeten Vertrag. Einige Bevölkerungsgruppen haben es besonders schwer, auf den Arbeitsmarkt zu gelangen: Frauen, ethnische Minderheiten (insbesondere die Roma/Ashkali/Ägypter) sowie Jugendliche ohne familiäre Beziehungen zu Firmen/Verwaltung.
(Schweizerische Botschaft in Kosovo, PDF)
Das Ziel eines Beitritts zur EU ist in der kosovarischen Politik nahezu unbestritten. Seit dem 1. April 2016 ist zwischen der EU-Kommission und Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) in Kraft, welches über zehn Jahre durch graduelle Liberalisierung freien Handel ermöglichen sowie die wirtschaftliche und institutionelle Entwicklung Kosovos anleiten soll. Die EU beurteilt die Umsetzung der im SAA getroffenen Vereinbarungen allerdings als schwach (…). Kosovo hatte zuerst die Deutsche Mark, ab 2002 den Euro einseitig als Währung übernommen. Damit ist Kosovo in den Euro-Raum eingebunden, was Stabilität bringt, jedoch eine eigenständige Währungspolitik verunmöglicht.
(Schweizerische Botschaft in Kosovo, PDF)

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"Oh wie schön ist Kosovo?", UZ vom 9. Juni 2023



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