Derzeit wird oft und gern über „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ diskutiert. Bundes-, Landes-, und Kommunalpolitiker aller Couleur scheinen sich einig: Das Ost-West-Denken muss aufhören; Strukturschwäche sei „keine Frage der Himmelsrichtung“, wie es die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) formulierte. Diesem Ansatz lässt sich natürlich einiges abgewinnen. Auch im Westen der Republik gibt es viele verarmte Regionen, die Menge der überschuldeten Kommunen ist groß. Ja, einen Ausbau der Infrastruktur, mehr soziale und kulturelle Einrichtungen, lebenswertere Städte und Gemeinden braucht es hüben wie drüben.
Doch all das ändert nichts an der historischen Entwicklung, an den unterschiedlichen Lebenserfahrungen in Ost und West. Der aktuelle Versuch einer „Tabula-rasa-Politik“, die die vergangen Jahrzehnte auszublenden versucht, ist zum Scheitern verurteilt. De-Industrialisierung, Ausverkauf und Entvölkerung prägen das kollektive Bewusstsein der Ostdeutschen und sind, allen regelmäßig propagierten Erfolgsmeldungen zum Trotz, die materielle Grundlage der heutigen Gesellschaft in den „neuen Ländern“. Das lässt sich auch am sogenannten „Deutschlandatlas“ der Bundesregierung ablesen. Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von mit Statistiken angereicherten und entsprechend eingefärbten Karten der Bundesrepublik.
Das Gebiet der ehemaligen DDR sticht auf fast allen Karten hervor: hier leben die Menschen mit dem niedrigsten Einkommen, hier ist die Zahl der Schulabbrecher am größten, der Wohnungsleerstand am deutlichsten und die Wege zu wichtigen Einrichtungen am längsten. Nirgendwo sonst leben so viele alte Menschen im Verhältnis zu so wenigen jungen. Auch das Steueraufkommen und damit die kommunalen Einnahmen sind in Ostdeutschland weit unter den (ebenfalls nicht ausreichenden) Einnahmen im Westen. Gaben die ostdeutschen Gemeinden im Jahr 2016 rund 2600 Euro je Einwohner aus, waren es im Westen knapp 3000. Hinzu kommt der erlebte Niedergang: das Aussterben von Orten und Zentren, die auf die Spitze getriebene Zusammenlegung von Gemeinden.
29 Jahre nach Kohls Versprechen von den „blühenden Landschaften“ ist der Betrug offensichtlich. Das wird natürlich weder Bundes- noch Landespolitik davon abhalten, die Entwicklung schönzureden. Die Erzählung vom Ende des „Ost-West-Denkens“ ist nur ein weiterer Versuch, dieses gewaltige Versagen zu verschleiern. Dabei wird gerne auf Statistiken verwiesen, die den „Erfolg“ beim sogenannten „Aufbau Ost“ (eine unsägliche Wendung) messbar machen sollen. So wird gerne ausgeführt, wie stark die Arbeitslosenquote seit 1990 gesunken ist, natürlich ohne näher auf die massenhafte Abwanderung von jungen Menschen einzugehen. Aber wäre es nicht angebracht, die Statistik etwas auszuweiten? Wie wäre es, die Arbeitslosigkeit heute mit der Arbeitslosenzahl von 1988 oder 1989 zu vergleichen? Was würde dann bleiben von der Erfolgsgeschichte? Nichts. Und deswegen wird dieser Vergleich auch weder gezogen noch zugelassen. Denn dann könnte man ja vielleicht sehen, dass der „Aufbau Ost“ in Wirklichkeit nur zur Zerstörung einer Gesellschaft geführt hat. Dann würde man Gefahr laufen, die Lebensleistung der ehemaligen DDR-Bürger anerkennen zu müssen und dem Osten der Republik eine eigene Geschichte zuzugestehen, die nicht nur „grau“ und „unterdrückt“ daherkommt.
Denn bei allem Gerede von den „Gleichwertigen Lebensverhältnissen“ soll doch eines vermieden werden: dass durch eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR und ihrer Zerstörung nach 1990 die Forderung nach „Guten Lebensverhältnissen“ aufkommt. Denn die kann man nun beim besten Willen nicht liefern.