Einen Monat nach der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung, der Constituyente, am 30. Juli und dem Beginn ihrer Arbeit am 4. August hat sich in Venezuela die innenpolitische Lage in dem südamerikanischen Land spürbar stabilisiert. Nahezu über Nacht ist die Welle gewaltsamer Proteste der Opposition zu Ende gegangen. Hatten die Rechtsparteien in den Tagen vor der Wahl noch mit einem Generalstreik und einem Marsch auf den Präsidentenpalast Miraflores gedroht, herrschte nach der Abstimmung Ruhe. Gegen den Widerstand ihres radikalen Flügels entschieden sich die meisten Oppositionsparteien, an den bevorstehenden Regionalwahlen teilzunehmen. Diese waren ursprünglich für den 10. Dezember vorgesehen, wurden von der Constituyente jedoch auf Oktober vorgezogen.
Die Constituyente ist entsprechend den Regelungen der geltenden Verfassung allen anderen Staatsgewalten übergeordnet und kann sich deshalb sowohl über Entscheidungen der Regierung als auch über solche des regulären Parlaments hinwegsetzen. In der internationalen Presse wird dies als „Entmachtung“ der von den Rechtsparteien dominierten Nationalversammlung dargestellt. Dabei haben sich die Regierungsgegner den Verlust ihres Einflusses selbst zuzuschreiben, denn sie hatten die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung boykottiert.
Die umfangreichen Befugnisse der Constituyente haben allerdings auch dazu geführt, dass die in sie gesetzten Hoffnungen groß sind – und die Forderungen entsprechend. So werde eine sofortige Lösung der komplizierten wirtschaftlichen Lage erwartet, schrieb etwa Bildungsminister Elías Jaua in einem Beitrag auf der Homepage des Staatssenders „Radio Nacional de Venezuela“. Die Constituyente habe jedoch keinen Zauberstab, mit dem sie alle Probleme lösen könne, die derzeit die nationale Wirtschaft beeinträchtigen. „Die Überwindung der wirtschaftlichen Probleme wird das Ergebnis der produktiven und ehrlichen Anstrengung der Privatunternehmen, der Arbeiterinnen und Arbeiter, der entstehenden Formen von kommunalem und gesellschaftlichem Eigentum, der öffentlichen Unternehmen und der Anleitung und des transparenten Handeln des Staates sein“, so Jaua.
Hauptaufgabe der Constituyente sei es, für politische Stabilität zu sorgen, damit in einem ruhigen Umfeld das Recht auf ein friedliches Leben des venezolanischen Volkes gesichert werden könne. Es sei aber auch richtig, dass die Verfassunggebende Versammlung die Möglichkeit hat, durch eigene Gesetze die Entstehung nicht-kapitalistischer Produktions- und Distributionsformen zu fördern. Der Minister schlug deshalb unter anderem vor, ein „realistisches“ Wechselkurssystem zu entwickeln, das einen transparenten und gleichberechtigten Zugang zu Devisen ermöglicht. Alle am Im- und Export von Waren und am inneren Güterverkehr beteiligten Institutionen müssten überprüft und neu organisiert werden. Weiter regte Jaua eine mit allen Akteuren diskutierte und vereinbarte Preispolitik an, um den anhaltenden Anstieg der Lebenshaltungskosten zu stoppen. „Eine Revolution, die sich sozialistisch nennt, darf – auch wenn sie die existierende Privatinitiative anerkennt und unterstützt – nicht darauf verzichten, neue Eigentumsformen und neue Produktionsbeziehungen zu fördern, sie darf also nicht darauf verzichten, nicht-kapitalistische Eigentums- und Produktionsformen zu schaffen.“
Die Constituyente hat sich in den ersten Wochen ihrer Existenz auch zu einem ökonomischen Diskussionsforum entwickelt. Oscar Schemel, der für die Unternehmerschaft in die Constituyente gewählt wurde, forderte am 9. August eine Überprüfung der bisher praktizierten Preis- und Währungskontrollen. Diese hätten ihre Ziele nicht erreicht, sondern nur für Korruption, Ineffizienz und einen Niedergang der Produktivität gesorgt. Dagegen warnte Aristóbulo Istúriz, einer der bekanntesten Vertreter der chavistischen Bewegung, dass die Probleme des Landes in erster Linie durch einen von außen geführten Wirtschaftskrieg verursacht würden und nicht durch eine Verringerung des Schutzes für die ärmeren Bevölkerungsschichten gelöst werden könnten.
Die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) warnt, dass Teile des Regierungslagers einen Kompromiss mit den Unternehmern und Teilen der Opposition eingehen wollen. Damit sei die Gefahr verbunden, dass zwar die bolivarische und sozialistische Fassade des Prozesses erhalten bleibe, die Errungenschaften der vergangenen 18 Jahre jedoch geopfert würden. Verlierer sei dann die Bevölkerung. Die Kommunisten fordern unter anderem Strafmaßnahmen gegen die privaten Finanzinstitute, weil diese in den vergangenen Wochen Obergrenzen für die Ausgabe von Bargeld eingeführt und damit die Kunden vom Zugang zu ihrem eigenen Geld abgeschnitten hätten. Politbüromitglied Pedro Eusse erklärte, dass die grundsätzliche Lösung nur die revolutionäre Nationalisierung des gesamten Finanzsystems unter der Kontrolle der Arbeiter und des Volkes sein könne. Nur dadurch könne sichergestellt werden, dass die Ressourcen dieses Sektors nicht mehr in überhöhte Managergehälter, sondern in die produktive Entwicklung des Landes fließen.