Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 9,60 Euro und ist „eine sozialdemokratische Erfolgsgeschichte“, wie die vom Wahlkampf berauschte SPD auf ihrer Homepage schreibt. Ausnahmsweise möchte man dem Willy-Brandt-Haus zustimmen: Selten wurde eine richtige und kämpferische Forderung erfolgreicher sozialdemokratisiert, untergraben und ausgehöhlt als die nach einem existenzsichernden Arbeitslohn. Seit Jahren ist bekannt, dass eine Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn geradewegs in die Altersarmut führt. Doch die aktuelle Lohnuntergrenze macht auch die Jungen arm, wie ausgerechnet die Bundesregierung vor Kurzem bestätigte.
Auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag machte die Regierung folgende Rechnung auf: 9,60 Euro Stundenlohn entsprechen einem Bruttoeinkommen von rund 1.568 Euro im Monat. Nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und Freibetrag verbleiben einer Person, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, knapp 878 Euro. Die Bundesregierung zieht hiervon einen Regelbedarf von 446 Euro ab. Für Unterkunft und Heizung stehen also nur noch 432 Euro zur Verfügung. Schon rein rechnerisch führt dies dazu, dass die durchschnittlichen Unterkunftskosten in sechs Bundesländern und fast 100 Städten und Kreisen mit dem Mindestlohn nicht zu bezahlen sind.
Diese Zahlen bieten viel Spielraum nach unten. 446 Euro reichen kaum zum Leben und die Durchschnittsmieten unterscheiden sich erheblich von den aktuell am Wohnungsmarkt verlangten Preisen. Wer den Mindestlohn verdient, wird arbeitend arm gehalten und in die Grundsicherung gedrängt. Doch die Sozialhilfe ist ein unzuverlässiger Rettungshalm. Die Unterkunftskosten werden nicht anerkannt, wenn sie den Behörden „unangemessen“ erscheinen. „Unangemessen“ sind Wohnungen, die teurer sind, als Kreise und Kommunen erlauben. Die Obergrenzen werden in Tabellen festgelegt, die oft von spezialisierten Beratungsagenturen erstellt werden. Dabei ist jede Zahlenakrobatik recht, solange sie die anzuerkennenden Mietpreise auf ein Minimum beschränkt und halbwegs gerichtsfest ist. Nicht, dass Klagen viel Erfolg versprächen: Lange Gerichtslaufzeiten treffen auf mittellose Klägerinnen und Kläger. Im Bundesdurchschnitt lagen die tatsächlichen Kosten der Unterkunft im Jahr 2020 13 Euro unter den durchschnittlich anerkannten Kosten der Unterkunft. 38 Prozent aller Ein-Personen-Haushalte im Sozialsystem zahlten mehr als 432 Euro für Miete und Heizung; im Durchschnitt mussten diese Personen 540 Euro stemmen.
Übersteigt die Miete die Vorgaben, muss die Differenz von den Betroffenen selbst getragen werden – unabhängig davon, ob es sich um Aufstocker oder Arbeitslose handelt. Da diese jedoch kein Geld haben, verschulden sie sich, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im schlimmsten Fall folgen Mietausfälle, Stromsperren und Zwangsräumungen. Obdachlos trotz Vollzeitjob? Der Mietenwahnsinn, ein zu niedriger Mindestlohn und ein rücksichtsloses Sozialsystem machen das möglich.
Löhne, Mieten und Hartz IV: drei „sozialdemokratische Erfolgsgeschichten“. Jeder Lohn unter 14,40 Euro pro Stunde, so fand die Hans-Böckler-Stiftung im Jahr 2017 heraus, bietet keine Sicherheit vor Verarmung im Alter. Wie reagiert die seit 2013 regierende SPD im Wahljahr 2021? Sie fordert 12 Euro Mindestlohn. „Die Linke“ hält lautsprecherisch dagegen, verfehlt das notwendige Minimum mit der Forderung nach 13 Euro aber ebenso. Man muss dieses unbeholfene Wahlkampfscharmützel zweier sozialdemokratischer Parteien nicht lange kommentieren. Mit der DKP gibt es nur eine Partei, die mit 15 Euro einen Mindestlohn über der (Alters-)Armutsgrenze fordert. Davon würden 15 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter profitieren, die derzeit weniger als 14 Euro verdienen – mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen in Deutschland.