Endlich auf Deutsch erschienen: „Die Frauen von Birkenau“

Nur wenige kamen zurück

Am 27. Januar 1945 gelang es der Roten Armee bei ihrem Vormarsch nach Westen, den Lagerkomplex des KZ Auschwitz von den deutschen Faschisten zu befreien. Bis dahin waren Millionen Menschen dorthin verschleppt worden mit dem einzigen Ziel, sie entweder sofort zu ermorden oder noch für kurze Zeit ihre Arbeitskraft auszubeuten. Die Menschen kamen aus allen Ländern Europas, die Zahl der Todesopfer schwankt zwischen 1,1 und 1,5 Millionen. In den letzten Wochen vor der Befreiung zwangen die SS-Mannschaften Tausende bis dahin überlebende Häftlinge auf „Todesmärsche“, in den Lagern selbst fand die Rote Armee noch rund 7.000 völlig entkräftete Männer, Frauen und Kinder vor.

Eine der Überlebenden von Auschwitz ist Seweryna Szmaglewska, sie schrieb, krank und entkräftet, bereits in den ersten Monaten danach ihren „Bericht“ über ihre Inhaftierung in Auschwitz-Birkenau. Dieser Text lag den Nürnberger Prozessen als Dokument vor, das die Gräuel der Konzentrationslager bezeugte. 1946 sagte sie als eine von zwei Zeugen aus Polen in Nürnberg aus. Als politische Gefangene hatte sie zwischen 1942 und 1945 insgesamt 30 Monate im Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz II) verbracht. 75 Jahre nach der polnischen Erstausgabe, die korrekt übersetzt „Der Rauch über Birkenau“ heißen würde, ist endlich und mehr als verspätet mit „Die Frauen von Birkenau“ eine deutschsprachige Ausgabe erschienen. Marta Kijowska hat das in zahlreichen Auflagen und vielen Sprachen vorliegende Buch ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort versehen, das die 1992 in Warschau verstorbene Schriftstellerin vorstellt. 1947 hatte bereits eine italienische Überlebende von Auschwitz, Liana Millu, ihre Erlebnisse unter dem Titel „Rauch über Birkenau“ veröffentlicht – deshalb der geänderte deutsche Titel für das Buch von Seweryna Szmaglewska.

Warum in meinem Beitrag „Bericht“ in Anführungszeichen steht, liegt in der Schwierigkeit begründet, ob und wenn welchem Genrebegriff man den Text der Autorin zuordnen soll. Szmaglewskas Text weist die den Autoren der ersten Stunde eigene Unmittelbarkeit aus, die genauen Beschreibungen des Lageralltags, die Beziehungen zwischen Häftlingen und ihre Bewältigungsstrategien. Doch die kühle Berichtform, der forschende, die niederdrückende Umgebung genau registrierende Blick mischt sich zunehmend mit einem fast poetischen Ton und romanhaften Zügen. Dieses „literarischere“ Herangehen irritiert beim ersten Lesen, aber die authentische Beschreibung wird dadurch sogar noch eindringlicher, sie stellt eine Brücke her zur Vorstellungskraft des Lesers und ist ein Versuch, sich den unvorstellbaren Ausmaßen des Terrors zu nähern, ihn überhaupt begreifbar zu machen. Der deutsche Verlag enthält sich jeder Einordnung durch eine Bezeichnung, verständlich und lobenswert.

So eröffnet uns Seweryna Szmaglewska die Welt der Gedanken und Empfindungen der Gefangenen, es bleibt nicht bei der reinen Beschreibung. Zum Beispiel, wenn sie völlig erschöpfte Gestalten vor einer Baracke im Winter sieht: „Wenn sie sich etwas wünschen, dann nur, dass sie die Baracke betreten, zwei Scheiben von ihrer Portion Brot essen und dann einschlafen und vergessen können.“

Die Bericht- und Zeugnisform wird durch den entscheidenden Verzicht auf die Ich-Form entscheidend überschritten. Die Autorin schreibt nicht in der ersten Person Singular, sie wählt das „Wir“. Zweifellos ist es ihr Anspruch, auch für so viele andere zu sprechen, die ihre Stimme nach der Befreiung nicht mehr erheben konnten. Das Gefühl für die eigene Individualität verliert sich immer mehr. Es ist, als ob mit der letzten persönlichen Kleinigkeit, die bei der Entlausung verloren gegangen ist, auch das letzte sichtbare Zeichen der Identität gestorben wäre, als ob man die Möglichkeit verloren hätte, noch derselbe Mensch zu sein, der man vorher war. Fast unerträglich ist es, wenn die Autorin von den erzwungenen Arbeiten der Gefangenen berichtet: Aus der „Entlausungskammer“, am Beispiel des Weiterreichens der lumpenhaften, schmutzigen und verschwitzten Kleidung von schon Toten, die nun andere Inhaftierte tragen müssen. Alltagsroutinen wie das im Morgengrauen befohlene Ritual des Appells, ständig grassierende Krankheiten wie die Läuse, die den Gefangenen die wenigen Ruhestunden in den Nächten rauben, das aufwendige und eigentlich sinnlose Reinigen der Decken und Kleidungsfetzen, das im Lagerjargon sogenannte „Organisieren“ von nötigen Gegenständen oder Lebensmitteln, die grenzenlose Überfüllung der Baracken, der Umgang mit Typhus und Ruhr, die eine Gefangene nach der anderen befallen, die Angst vor der Krankenbaracke, aus der viele nicht mehr zurückkehren.

Die Zeiterfahrung der Gefangenen macht sich nur noch fest an den Jahreszeiten, an den häufigen oder manchmal ausbleibenden Transporten neuer Häftlinge, bei Szmaglewska heißt es: „Die Tage vergehen, lang wie Jahre. Es kommen immer neue Transporte, die wie Generationen, deren Leben sich erfüllt hat, in Richtung Krematorium weggehen. Alles verändert sich. Das pulsierende Tempo der Vernichtung zerstört heute das, was gestern der menschliche Überlebensinstinkt geschaffen hat. Wer hier ein Jahr überlebt hat, ist wie ein Mensch, der mit dem Privileg der Unsterblichkeit bedacht wurde: Er schaut auf das Kommen neuer Generationen und er verabschiedet sie, wenn sie gehen.“ Kaum erträglich ist das Lesen der nüchternen, sachlichen Beschreibung der Selektionen, höchstens 10 Prozent der Ankommenden werden in die Baracken geschickt, alle anderen werden sofort weitergetrieben zu den Gaskammern. Mag man das Wort „Glück“ schreiben, wenn einer aus einer Familie für „arbeitsfähig“ gehalten wird, also vielleicht überlebt, während alle anderen in den Tod geschickt werden? Dann die Hoffnung, als im Sommer 1944 geflüsterte Nachrichten über die Kriegsniederlagen der Faschisten ins Lager einsickern: „Kennt ihr eine Sehnsucht, die stärker ist als Hunger und Durst? Wisst ihr, dass das Bedürfnis nach Träumen gewaltiger sein kann als das Bedürfnis nach Schlaf?“ Umso härter die Nachricht über das Scheitern des Warschauer Aufstands, die endgültige Wegfall möglicher Illusionen, als im August die Transportzüge mit Bewohnern aus der polnischen Hauptstadt im Lager eintreffen, einer nach dem anderen.

Seweryna Szmaglewska schafft es gerade und auch durch die eigenen Erfahrungen, eine doppelte Gemeinschaft zwischen den Häftlingen und Todgeweihten auszumachen: Die solidarische Haltung, sich unter den Augen der SS und der Kapos möglichst beizustehen, und die humanistische Haltung, dass der moralische Widerstand gegen die Faschisten unbedingt notwendig ist. Das Buch sei allen empfohlen, auch denen, die mit Zeugnissen von Überlebenden vertraut sind, aber es braucht Zeit zum Lesen und noch mehr Zeit, mit dieser Leseerfahrung umzugehen.

Seweryna Szmaglewska
Die Frauen von Birkenau
Verlag Schöffling & Co. Frankfurt
geb.,  450 Seiten, 28,- Euro

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"Nur wenige kamen zurück", UZ vom 29. Januar 2021



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