Dem Wikileaks-Gründer drohen in den USA 175 Jahre Haft, seine Auslieferung muss verhindert werden.

„Nur großer Druck wird Julian Assange retten können“

Keine Aussicht auf Freilassung: Zehn Jahre nach der Veröffentlichung geheimer Militärberichte über die Kriegsrealität in Afghanistan wird der Journalist und Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London einzig aus dem Grund gefangen gehalten, um seine Auslieferung an die USA sicherzustellen. Dort erwartet ihn Haft bis zum Tod.

Ein Gespräch mit John Shipton und Sevim Dagdelen

UZ: Herr Shipton, Ihr Sohn Julian Assange hat seinen 49. Geburtstag am 3. Juli im britischen Hochsicherheitsgefängnis verbringen müssen. Wie geht es ihm in Belmarsh, wie sind seine aktuellen Haftbedingungen?

John Shipton: In Hochsicherheitsgefängnissen wie Belmarsh gelten weiterhin die Kontaktverbote aus dem Covid-19-Lockdown. Das heißt, es sind keine Besuche erlaubt, auch nicht von Anwälten. Julian ist 23 Stunden am Tag in seiner Zelle.

UZ: Wann konnten Sie Ihren Sohn zuletzt sehen? Können Sie mit ihm sprechen?

John Shipton: Mein letzter Besuch bei Julian war eine Woche vor Beginn der Covid-19-Abriegelung. Damals waren noch zwei zweistündige Besuche pro Woche erlaubt. Während der 50 Wochen Haft, zu denen er im Mai 2019 verurteilt worden war, waren nur pro Monat zwei zweistündige Besuche gestattet. Julian wurde lange auf der Krankenstation in Isolationshaft gehalten. Häftlinge im Flügel der über 50-Jährigen reichten bei der Gefängnisverwaltung drei Petitionen ein, in denen sie sich erfolgreich dafür stark machten, Julian in ihren Trakt zu verlegen.

UZ: Welche Möglichkeiten haben die Anwälte Ihres Sohnes, ihren Mandanten zu besuchen, allen voran Stella Moris, die auch seine Partnerin ist?

John Shipton: Gemäß der Covid-19-Bestimmungen im Gefängnis sind generell keine Besuche erlaubt. Das gilt für alle.

UZ: Mit Blick auf die Verbreitung des Coronavirus hat das Justizteam einen Antrag auf Freilassung unter Kautionsauflagen gestellt. Mit welcher Begründung wurde dieser vom Gericht abgelehnt und was bedeutet das für Julian Assange, der unter gesundheitlichen Problemen leidet?

John Shipton: Eine Freilassung auf Kaution wurde aufgrund eines früheren Kautionsverstoßes abgelehnt. Julians Recht, einen Asylantrag zu stellen, wurde ignoriert. Seine Verhaftung in der ecuadorianischen Botschaft in London war nicht ordnungsgemäß. Das Urteil der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zu willkürlicher Inhaftierung (United Nations Working Group on Arbitrary Detention – WGAD) aus dem Jahr 2016, wonach Julians Botschaftsaufenthalt aufgrund seines politischen Asyls einer unrechtmäßigen Haft gleich kommt, und die Bestätigung dieses Votums 2018 aufgrund des Auslieferungsersuchens der USA wurden nicht zur Kenntnis genommen. Insgesamt eine Kakophonie aus Rechtswidrigkeiten, Gesetzesverstößen und Justizmissbrauch.

UZ: Die für Mai geplante zweite Anhörungsrunde im Verfahren über eine Auslieferung von Julian Assange an die USA ist wegen der Corona-Pandemie auf September verschoben worden. Wie haben Sie die ersten Anhörungstage Ende Februar in Erinnerung?

John Shipton: Das Ganze war eine Farce, ein großer Betrug, begangen von den Vereinigten Staaten und der US-Staatsanwaltschaft mit Hilfe einer voreingenommenen und parteiischen Richterin.

UZ: Sevim, du warst seinerzeit als Prozessbeobachterin in London und hast im Interview mit dem „Spiegel“ von einem „reinen Schauprozess“ gesprochen. Woran machst du das fest?

Sevim Dagdelen: Es ist offenkundig, dass an Julian Assange ein Exempel statuiert wird für seine Enthüllungsarbeit über die Realität der US-Kriege in Afghanistan und im Irak oder das Folterlager Guantánamo. Seit zehn Jahren wird seine journalistische Arbeit diskreditiert und er selbst systematisch entmenschlicht und dämonisiert.

Er ist in 18 Punkten von der US-Justiz angeklagt, ihm drohen 175 Jahre Haft. Das ist die Todesstrafe auf Raten. Die USA werfen ihm und Wikil­eaks vor, durch ihre Veröffentlichungen geheimer Dokumente Menschenleben gefährdet zu haben. Bis dato konnte dieser schwere Vorwurf im Prozess durch nichts belegt werden. Und wenn er zuträfe, müssten dann nicht auch die Journalisten mit angeklagt werden, mit denen Wikileaks seinerzeit zusammengearbeitet hat oder die Chefredakteure des „Spiegel“, des „Guardian“ oder der „New York Times“, die das Material von Wikileaks sogar zeitlich vorher veröffentlicht haben?

So selektiv wie die US-Anklage vorgeht, so ungleich ist das bisherige Prozessgeschehen. Julian kann sich in Belmarsh beim besten Willen nicht adäquat auf sein Verfahren vorbereiten, ein Verfahren, in dem es um sein Leben geht. Er ist gesundheitlich nach den Jahren der Isolation schwer angeschlagen – dem UN-Sonderbeauftragten zum Thema Folter, Nils Melzer, zufolge weist er alle Anzeichen der Folgen psychischer Folter auf. Selbst im Gerichtssaal wird Julian der direkte Zugang zu seinen Anwälten verwehrt, er sitzt am Ende des Saals, abgeschirmt hinter Panzerglas, und kann sich nur durch dünne Schlitze mit seinen Anwälten äußern, nachdem er sich per Handzeichen bemerkbar gemacht hat. Wenn er vertraulich mit seinem Justizteam reden will, muss jedes Mal das Verfahren unterbrochen werden. Die Vertreter der US-Ankläger, des State Departement und der US-Botschaft in London sitzen dagegen schön beieinander und können unentwegt miteinander kommunizieren und so rasch reagieren. Von einer angemessenen Verteidigung und einer prozessualen Waffengleichheit kann hier keine Rede sein – und die ist Voraussetzung für ein rechtsstaatliches Verfahren. Es bleibt ein Rätsel, wie sich Julian unter den Bedingungen der Covid-19-Isolation auf das weitere Verfahren im September vorbereiten soll. Es gilt also umso mehr: Julian muss aus gesundheitlichen wie rechtsstaatlichen Gründen aus der Haft entlassen werden.

UZ: Herr Shipton, aus Deutschland haben sich im Februar vor Prozessbeginn auf Initiative von Günter Wallraff und Sevim Dagdelen mehr als 100 Prominente aus Politik, Kultur und Wissenschaft mit einem Appell für eine Freilassung von Julian Assange aus gesundheitlichen und rechtsstaatlichen Gründen eingesetzt, darunter auch die früheren Außenminister Sigmar Gabriel, Bundesinnenminister Gerhart Baum und Staatsminister Peter Gauweiler. Wie wichtig ist ein solcher Aufruf, der binnen weniger Tage von über 50.000 Menschen unterzeichnet worden ist?

John Shipton: Die Unterstützung in Deutschland ist großartig, sprichwörtlich, ein Licht auf dem Hügel. Die selektive Auslieferung an die USA, die extraterritoriale Anwendung von US-Gesetzen gegenüber einem Verleger und Journalisten wird als grundlegend schädlich für das Zivilleben in Europa erkannt und zurückgewiesen, ebenso der Versuch, die Verbreitung von Fakten und Ideen zu unterdrücken oder einzuschränken.

UZ: Wie geht es nach der Initiative weiter?

Sevim Dagdelen: Vorausgegangen war dem Appell eine Anhörung der Fraktion „Die Linke“ im Bundestag im November 2019 – „Medien unter Beschuss: Feldzug gegen Wikileaks und investigativen Journalismus“. Im Mai war Nils Melzer im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages angehört worden. Es ist wichtig, dass sich jetzt auch die SPD-Fraktion gegen eine Auslieferung von Julian Assange an die USA engagiert. Eine breite Unterstützung in Britannien selbst ist jetzt aber notwendig, partei- und spektrumsübergreifend. Das Auslieferungsverfahren ist ein politischer Prozess. Über die Auslieferung an die USA wird am Ende die britische Regierung entscheiden. Nur großer Druck in Britannien selbst und international wird Julian Assange retten können.

UZ: Am 25. Juli 2010 hat Wikileaks die „Afghanistan-Tagebücher“ veröffentlicht, über 90.000 zum Teil als „Geheim“ eingestufte Dokumente über den Krieg am Hindukusch. Julian Assange sagte damals dazu im „Spiegel“: „In seiner Fülle stellt das Material alles in den Schatten, was bisher über Afghanistan gesagt wurde. Es wird nicht nur unseren Blick auf diesen Krieg verändern, sondern auf alle modernen Kriege. (…) Das Material wirft ein Schlaglicht auf die alltägliche Brutalität und das Elend des Krieges. Es wird die öffentliche Meinung verändern und auch die von Menschen mit politischem und diplomatischem Einfluss.“ Tatsächlich dauert der US-geführte Krieg in Afghanistan bis heute an. Hat sich Julian Assange also geirrt?

Sevim Dagdelen: Nein. Nach den Veröffentlichungen des „Collateral Murder“-Videos, das die kaltblütige Ermordung irakischer Zivilisten in Bagdad durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers dokumentiert, und die militärischen Berichte aus Afghanistan wurde klar, dass Kriege auch heute noch brutal sind und nicht „chirurgisch präzise“, wie uns die Propaganda wahr machen will. Die öffentliche Meinung ist kritischer geworden. Deshalb wird noch energischer die Wahrheit unterdrückt beziehungsweise bewusstlos geschlagen. Aber nicht einer der verantwortlichen Kriegsverbrecher wurde für seine Taten verantwortlich gemacht – der ehemalige US-Präsident George W. Bush sonnt sich auf seiner Ranch in Texas, während Julian Assange in seiner Zelle in Belmarsh schmort. Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright, die einmal sagte, der Tod von 500.000 Kindern im Irak infolge der US-Sanktionen sei den „Preis wert“, betreibt eine lukrative Beratungsfirma, bei der auch der frühere grüne Außenminister Joschka Fischer mit verdient, der uns 1999 in den illegalen NATO-Krieg gegen Jugoslawien gelogen hat. Es liegt an uns allen, der Wahrheit immer wieder auf die Beine zu helfen.

UZ: Wikileaks hatte seinerzeit mit dem „Spiegel“, mit dem britischen „Guardian“ und der „New York Times“ in den USA kooperiert und weltweit für Schlagzeilen gesorgt. John Goetz hatte bei der Anhörung „Medien unter Beschuss“ im November 2019 im Bundestag über seine Zusammenarbeit mit Julian Assange berichtet und erklärt, es sei absurd, dass dieser von den USA verfolgt werde, aber kein anderer der damals beteiligten Journalisten. Wie wichtig wäre eine gemeinsame Solidaritätserklärung dieser großen Medien mit Julian Assange?

John Shipton: Ich will hier nicht leichtfertig große Worte gebrauchen, aber eine gemeinsame Erklärung ist für Julian lebenswichtig – wie auch für den Journalismus selbst. Die Internationale Journalistenföderation, der französische und der italienische Journalistenverband haben dies auch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.

UZ: Welche Folgen hat das ganze Verfahren für die Pressefreiheit?

Sevim Dagdelen: Der US-Whistleblower Edward Snowden, dem wir die Enthüllungen über das gigantische globale Abhörprogramm der Vereinigten Staaten verdanken, hat die Verhaftung von Julian Assange richtigerweise als „Kriegserklärung an den Journalismus“ bezeichnet. „Es ist nicht nur ein Mensch in Gefahr, sondern die Zukunft der freien Presse“, so sein Diktum. Julian Assange ist ein politischer Gefangener wie es Ferdinando „Nicola“ Sacco und Bartolomeo Vanzetti waren, die beiden aus Italien eingewanderten Arbeiter und Anarchisten, die 1921 in einem Schauprozess wegen angeblicher Beteiligung an einem Raubmord von der US-Justiz schuldig gesprochen und 1927 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden sind. Eine Auslieferung von Julian Assange an die USA muss verhindert werden. Die Verteidigung seiner Freiheit ist die Verteidigung der Freiheit selbst.

John Shipton: Unseren eigenen Interessen wird am besten dadurch gedient, wenn wir mit all unserer Kraft sicherstellen, dass diejenigen, die uns die Wahrheit sagen über Staatsverbrechen, Massenmorde und schmutzige Deals, nicht von hinterhältigen Beamten in Kerker verschleppt und dort ermordet werden.

Das Gespräch führte Rüdiger Göbel


Die Anhörung der Fraktion der Linkspartei im Bundestag „Medien unter Beschuss: Feldzug gegen Wikileaks und investigativen Journalismus“ vom November vergangenen Jahres ist zu sehen unter:
kurzelinks.de/medien-unter-beschuss

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"„Nur großer Druck wird Julian Assange retten können“", UZ vom 24. Juli 2020



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