Einige Jahre hindurch liefen die Tarifverhandlungen im Versicherungsgewerbe ab wie ein Ritual. Zunächst erhob die Gewerkschaft ver.di – oder vorher die hbv – eine ordentliche Gehaltserhöhung, die sich aus Produktivitätsbeteiligung, Inflationsausgleich und einer bescheidenen Umverteilungskomponente errechnete, dann gab’s eine weit darunter liegende, meist an der Inflationsrate allein orientierte Antwort der Unternehmerseite, ein paar kleinere Tarifaktionen der chronisch unterorganisierten Versicherungsangestellten und wenig später einen Abschluss, der sich im Geleitzug der sonstigen Tarifabschlüsse der Republik bewegte.
Diesmal war es anders.
Die 4,5-Prozent-Forderung von ver.di wurde nicht nur mit einem Angebot von sieben Nullmonaten, dann 1,1 Prozent, für ein Jahr und 0,9 Prozent für ein weiteres Jahr, also einem offenen Reallohnverlust-“Angebot“ gekontert. Das bemerkenswert Neue der Tarifrunde war die Verbindung dieser Unverschämtheit mit einem anderen Aspekt. ver.di hatte auch einen Zukunftstarifvertrag Digitalisierung mit Regelungen zur Sicherung der Arbeitsplätze gefordert. Dies ist bitter nötig, weil im gesamten Finanzdienstleistungssektor gegenwärtig rasant Arbeitsplätze gestrichen werden. Die voranschreitende Digitalisierung ermöglicht bereits in Ansätzen und noch mehr in der weiteren Zukunft eine sogenannte „Dunkelverarbeitung“. Ziel des Schubs neuer Technik ist es beispielsweise, nicht nur die Bearbeitung von Neuanträgen, sondern auch von Schäden bis zu einer bestimmten Höhe rein maschinell, d. h. ohne die klassischen Schadensachbearbeiter abzuwickeln, die jetzt noch einen beträchtlichen Teil der rund 200 000 Versicherungsangestellten ausmachen. Die Ablehnung der Forderung, die Arbeitsplätze der Branche gegen diesen Trend abzusichern, durch die Versicherungsbosse war überheblich, zynisch und politisch erhellend: Diese Digitalisierung erfordere enorme Ressourcen und deshalb müssten die Gehaltserhöhungen für die kommenden drei Jahre unter der Inflationsrate bleiben, damit das überhaupt finanziert werden könnte.
So deutlich wurde den Versicherungsangestellten selten im 150. Jahr des Erscheinens des „Kapital“ von Karl Marx dessen Kernerkenntnis buchstabiert: Die von den Programmierern, Tarifkonstrukteuren und Sachbearbeitern selbst geschaffenen Mittel treten ihnen nun als fremde Macht gegenüber, die sie als Träger der lebendigen Arbeit aus dem Produktionsprozess herausdrängt.
Diese Zusammenhänge mögen den meisten der 10 000 Angestellten nicht vor Augen gestanden haben, die in drei Warnstreikwellen gegen die Zumutungen der Versicherungsunternehmer im Sommer auf die Straße gegangen waren. Aber immerhin: So viele wie in dieser Runde hatten es in den Vorjahren nicht gewagt, die Arbeit niederzulegen – deutsche Versicherungsangestellte sind bekannterweise nicht die Speerspitze des internationalen Proletariats. Für ihre Aktionsbereitschaft spielte es aber schon eine Rolle, dass die Zumutung so offen ausgesprochen war: „Ihr schnallt bitte den Gürtel enger, damit wir noch zügiger Menschen durch Maschinen ersetzen können!“ Die Kraft, diesen Zusammenhang zu zerreißen, hat nicht gereicht – herausgekommen ist ein Tarifabschluss zwar nicht von 1,0 Prozent, aber auf die Laufzeit und unter Berücksichtigung von Nullmonaten gerechnet deutlich unter der Inflationsrate – also tatsächlich Reallohnverzicht. Trotz einiger Zugeständnisse bei Ansprüchen auf die Umwandlung von Gehaltsbestandteilen in Freizeit bei Personalabbaumaßnahmen, einem Teillohnausgleich bei Arbeitszeitreduzierungen und einem Rechtsanspruch auf Teilzeit bei Bildungsmaßnahmen zur Weiterqualifizierung gibt es den erhofften Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen durch Digitalisierungs-Rationalisierung nicht.
Der Prozess der Digitalisierung und des damit einhergehenden Arbeitsplatzabbaus im Versicherungsbereich – wie parallel dazu auch im Bankenbereich – wird also weitergehen. Er hat mehrere Aspekte. Zum einen verlagert sich die von Menschen vorgenommene Beratung von Versicherungsagenturen und Banken bzw. Sparkassen in einer Reihe von Sparten – vor allem Kraftfahrtversicherungen und einfachen Produkten wie Reisekrankenversicherungen und hier vor allem bei jüngeren Leuten – zunehmend ins Netz. Zum anderen erlauben es anders als noch vor fünf oder zehn Jahren die Systeme inzwischen, nicht nur wie oben beschrieben die Schadenabwicklung, sondern Prozesse der Antragskalkulation, der Angebotserstellung und des Abschlusses maschinell in einem ersten Schritt zu unterstützen und in einem zweiten Schritt ganz zu automatisieren.
Damit aber erfüllt sich die Ankündigung von Marx, dass im Kapitalismus in der Perspektive die menschliche Arbeitskraft als dem einzig wertbildenden Bestandteil des Arbeitsprozesses durch Maschinen ersetzt wird. Vielleicht hat die diesjährige Tarifrunde ja zumindest in einigen Unternehmen ein wenig dazu beigetragen, diese für alle weiteren Auseinandersetzungen fundamentalen Zusammenhänge schlaglichtartig zu beleuchten.