Unmittelbar nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten am 9. November 2016 begann in der Bundesrepublik eine Debatte über eine zukünftig angeblich notwendige atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Die Forderung wurde oft getarnt als Forderung nach einer europäischen atomaren „Abschreckungs-“, also Erstschlagskapazität. Die Begründung des CDU-Politikers Roderich Kiesewetter, der sich als erster am 16. November 2016 bei „Reuters“ dazu äußerte, und die Argumente zahlreicher Journalisten, Wissenschaftler und Politiker seither lauteten in der Regel: Mit Trump sei klar, dass auf die USA und ihre Bereitschaft, Westeuropa gegen einen nuklearen Angriff Russlands zu schützen, kein Verlass sei. Man müsse sich auf eigene Waffen stützen. Das entsprach auch der von Angela Merkel Ende Mai 2017 ausgegebenen Devise, „Europa“ müsse sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen.
Deutsche Regierungschefs sprechen seit Konrad Adenauer nicht öffentlich über eine deutsche Atombombe. Die Zeiten, in denen dieser Atomwaffen noch als „Weiterentwicklung der Artillerie“ deklarieren konnte, sind – nicht zuletzt wegen der Friedensbewegung vieler Jahrzehnte und der Massenmobilisierung gegen die „Nachrüstung“ in den 80er Jahren – vorbei. Angestrebt wurde die eigene Atombombe aber immer wieder, der deutsche Zugriff stets offengehalten. In der bemerkenswerten Dokumentation „Der neue kalte Krieg. Mehr Atomwaffen für Europa?“ von Andreas Orth, die der Fernsehsender „Arte“ am 5. Februar ausstrahlte und bis zum 5. Mai noch in seiner Mediathek zum Abruf bereitstellt, erläutert zum Beispiel der Hamburger Friedensforscher Ulrich Kühn: Die Regierung Willy Brandts sicherte der BRD beim Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag am 28. November 1969 mit einer Note ein „Schlupfloch“. Sie ratifizierte das Abkommen unter dem Vorbehalt, dass irgendwann eine Europäische Union (mit dem Mitglied BRD) über nukleare Kapazitäten verfügen könne. An den Zwei-plus-Vier-Vertrag, mit dem 1990 der Anschluss der DDR völkerrechtlich besiegelt wurde, fühlten sich alle Bundesregierungen seither in entscheidenden Punkten noch nie gebunden.
Die Arte-Dokumentation enthält zahlreiche Belege dafür, dass nach der Kündigung des INF-Vertrags die Suche nach „Schlupflöchern“ endgültig begonnen hat. Der Leiter der Münchener „Sicherheitskonferenz“, Wolfgang Ischinger, erklärte dort, er könne „nicht vollkommen ausschließen“, dass man über eine „nukleare Unterfütterung einer Europäischen Verteidigungsunion nachdenken könnte“ – gestützt auf französische Atomwaffen. Das heimliche Thema der in dieser Woche stattfindenden „Siko“ dürfte damit gesetzt sein.
Die „Neue Zürcher Zeitung am Sonntag“ zitierte jedenfalls am 10. Februar Ischingers Bemerkung am Schluss einer Analyse von Markus Bernath unter dem Titel „Europa fürchtet die neuen Raketen“. Der Autor vergleicht die Lage nach Kündigung des INF-Vertrages mit der „Nachrüstung“ des Westens in den 80er Jahren und sieht drei Möglichkeiten der europäischen NATO-Mitglieder, eine Auseinandersetzung wie damals mit der Sowjetunion zu vermeiden. Erstens diplomatische Verhandlungen, um den Vertrag zu retten. Das sei aber aussichtslos, da nur die USA und Russland Vertragsparteien seien. Zweitens: „Selbstständig werden“, das heißt konventionell in einem Maße aufrüsten, bis die USA auf eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa verzichten. Das hätten die NATO-Europäer bereits 2016 unter dem Schlagwort „Strategische Autonomie“ beschlossen, viel sei aber daraus nicht geworden. Drittens: „Atomare Aufrüstung“. Bernath meint zunächst, das scheine politisch „wenig realistisch“, weist aber dann auf die von konservativen Politikern geführte Debatte hin und zitiert Ischingers „nukleare Unterfütterung“. Die erscheint ihm offenbar doch realistisch. Wichtigen Kräften des deutschen Imperialismus schon seit Jahrzehnten.