Lange hatte die türkische Regierung den „Islamischen Staat“ als nützliches Werkzeug gesehen, um die kurdischen Kräfte in Nordsyrien und die syrische Regierung zu schwächen. Die Terrorgruppe konnte sich über türkisches Territorium mit Nachschub versorgen und ihre Kämpfer in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen. Nach dem Anschlag von Suruç, bei dem am 20. Juli 33 linke Jugendliche ermordet wurden, änderte die türkische Regierung ihre Politik: Nun bekämpft sie zumindest halbherzig den IS. Aber vor allem sieht sie diesen Kampf als nützliches Werkzeug, um die kurdischen Kräfte in Nordsyrien und im Irak zu schwächen und um den Kampf gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei wieder zu verschärfen.
Seit dem 24. Juli bombardiert die türkische Armee die PKK-Kämpfer in den irakischen Kandil-Bergen genauso wie die dort lebende Zivilbevölkerung, sie verfolgt nach wie vor den Plan einer „Pufferzone“ in Nordsyrien. Bei Razzien in den vergangenen Wochen nahm die türkische Polizei rund 1 300 Menschen fest – unter ihnen waren zwar auch Anhänger des IS, die meisten jedoch kurdische Aktivisten oder Angehörige linker Organisationen.
Dass die türkische Regierung nun wieder aggressiver gegen die PKK und die kurdische Bewegung vorgeht, liegt zum einen daran, dass die kurdische Bewegung einer Verstärkung des türkischen Einflusses in den benachbarten Ländern entgegensteht. Vor allem hat der neueste Schwenk in der türkischen Politik jedoch innenpolitische Gründe: Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni hatte die regierende AKP die absolute Mehrheit der Mandate verfehlt, weil auch der linken, pluralistischen HDP trotz 10-Prozent-Hürde der Einzug ins Parlament gelungen war. Bisher hatte die AKP alleine regiert, nun muss sie Gespräche über die Bildung einer Koalition führen. Möglicherweise könnte ein härterer Kurs gegen die Kurden die faschistische MHP zu einer Unterstützung der AKP bewegen, möglicherweise spekuliert die AKP auch darauf, bei Neuwahlen von ihrer aggressiven Haltung zu profitieren.
Die linke HDP machte deutlich, dass die türkische Regierung für die neue Eskalation verantwortlich ist, kritisierte aber gleichzeitig die PKK. In einer Rede Ende Juli fragte der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas: „Eine Türkei, die Frieden mit der PKK geschlossen hat, eine Türkei, die von der Bedrohung durch die bewaffneten Kräfte der PKK befreit ist –, denkt nur, wie viel Luft hätten wir ihr plötzlich im Innern und im Äußeren verschaffen können? Im ganzen Nahen Osten wäre sie die Vorreiterin des Friedens geworden.“ In der vergangenen Woche forderte Demirtas die PKK auf, „den Finger vom Abzug zu nehmen“.
Die deutsche Regierung nimmt zur veränderten Politik der AKP-Regierung eine widersprüchliche Haltung ein: Einerseits begrüßte sie die Angriffe der Türkei auf den IS – schon seit langem fordert die Bundesregierung, dass die Türkei sich am Kampf gegen den islamistischen Terror beteiligt. Auf der anderen forderte Kanzlerin Merkel von der Türkei, dass sie am „Friedensprozess“ mit der PKK festhalten solle. Die Bundesregierung arbeitet zwar mit dem AKP-Regime zusammen, will aber gleichzeitig vermeiden, dass die eigenständige Rolle der Türkei als Regionalmacht weiter gestärkt wird. Letztlich trägt sie mit ihrer Haltung weiterhin dazu bei, dass es keine Lösung für den Krieg in Syrien gibt – während sie sich gleichzeitig darüber beklagt, dass immer mehr Menschen aus der Region auf die Flucht nach Europa getrieben werden.
Am vergangenen Samstag demonstrierten in Köln nach Veranstalterangaben 15 000 Menschen gegen die aggressive Politik der türkischen Regierung. Auch DKP und SDAJ beteiligten sich. Von der Bundesregierung forderten sie unter anderem die Aufhebung des PKK-Verbots. Die DKP erklärte: „Die deutsche Regierung trägt als NATO-Staat und als einer der Hauptwaffenlieferanten in die Region, vor allem an Saudi-Arabien und die Türkei, eine Verantwortung, der sie mit Appellen nicht gerecht wird. Wir fordern die klare Zurückweisung der Politik Erdogans und erneuern unsere Forderung nach sofortigem Abzug der Patriot-Raketen aus der Türkei.“