Was es mit dem angeblichen russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine auf sich hat, ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Klar ist, dass die Behauptung, Russland massiere dort bis zu 110.000 Soldaten, seit Ende Oktober von nicht näher bezeichneten US-„Sicherheitskreisen“ lanciert wird. Als Beleg wird unter anderem eine Satellitenaufnahme angeführt, die zahlreiche russische Militärfahrzeuge zeigt, etwa auch Kampfpanzer. Sie soll aus Jelnja stammen; die Kleinstadt liegt in der Oblast Smolensk nahe der Grenze zu Belarus und ist von der Grenze zur Ukraine gut 250 Kilometer entfernt. Experten weisen auf die Tatsache hin, dass die russischen Streitkräfte noch nicht all ihre Einheiten, die seit dem Umsturz in der Ukraine und deren Hinwendung zur NATO im Jahr 2014 im Westen des Landes neu etabliert wurden, vollständig mit Personal und Gerät ausgestattet haben. In Jelnja etwa ist, wie Oberst a. D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) betont, seit 2015 die 144. Schützendivision stationiert, aber bis heute immer noch nicht komplettiert worden. Die neu eingetroffenen Truppen könnten dazu dienen. Sollte es sich bei den etwa in Jelnja neu eingetroffenen Truppen tatsächlich um zusätzliche Soldaten handeln und nicht lediglich um die Auffüllung lange geplanter und bekannter Einheiten, dann wäre immer noch ungewiss, worauf ihre Stationierung im Detail zielt. In den vergangenen zwei Jahren haben die USA sowie zahlreiche Verbündete aus Europa mit den Defender Europe-Manövern den Aufmarsch in Richtung russische Grenze geprobt – zunächst im Nordosten (2020), dann im Südosten (2021) des Bündnisgebiets. Russland muss die Aufmarschdrohung in der einen oder anderen Form beantworten. Jelnja liegt recht genau in der Mitte zwischen den beiden potenziellen Aufmarschregionen; dort stationierte Truppen können je nach Bedarf binnen kürzester Frist in beide entsandt werden. Selbst US-Experten weisen zudem darauf hin, dass es sich bei der Stationierung zusätzlicher Truppen um eine Reaktion auf stärkere US-Militäraktivitäten im Schwarzen Meer handeln kann.
Russische Außenpolitikexperten wiederum betonen, ein angeblich drohender russischer Angriff auf die Ukraine ergebe aus russischer Sicht wenig Sinn. So wären russische Truppen auf ukrainischem Territorium auch dann, wenn die westlichen Staaten nicht unmittelbar intervenieren sollten, wohl stetigen Angriffen ausgesetzt, schrieb in der vergangenen Woche Ivan Timofeev vom Russian International Affairs Council (RIAC). Zudem müsse Moskau im Fall eines Angriffs auf die Ukraine mit einer dramatischen Ausweitung der westlichen Sanktionen rechnen. Nicht zuletzt setze die russische Regierung mit einem Überfall auf das Nachbarland ihren Ruf aufs Spiel und müsse eine umfassende diplomatische Isolation befürchten, urteilt Timofeev.
Vor allem aber nützt die Behauptung, Russland plane einen Überfall auf die Ukraine, dem Westen: Sie ist geeignet, die Ausweitung der militärischen Unterstützung für die ukrainischen Streitkräfte und gegebenenfalls auch die Nutzung ukrainischen Territoriums durch westliche Truppen zu legitimieren. Tatsächlich wird in der EU unter anderem über einen militärischen Ausbildungseinsatz in der Ukraine diskutiert; Britannien unterstützt die Aufrüstung der ukrainischen Marine; die Vereinigten Staaten ziehen die Ausweitung der Waffenlieferungen an die Streitkräfte des Landes in Betracht. In Deutschland herrscht Uneinigkeit. Während Mitte November „Sicherheitskreise“ mit der Einschätzung zitiert wurden, der russische Präsident Wladimir Putin suche „im Bereich des Militärischen keinen großen strategischen Konflikt“, behauptete am Wochenende der Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß: „Ein begrenzter militärischer Angriff, zum Beispiel zur Besetzung des Donbass, ist eine Option Moskaus.“ Ähnlich äußert sich SWP-Experte André Härtel: Er hält eine russische „Invasion“ in der Ukraine für „möglich“. Härtel fordert, „um Moskau von derlei Schritten abzuhalten“, müsse sich der Westen „auf eine Eskalation einstellen“ und neue „Sanktionen gegenüber Moskau und Minsk vorbereiten“. Zudem gelte es, militärische Schritte einzuleiten: So könne „die EU im Schwarzen Meer aktiv Präsenz zeigen“ sowie „existierende bilaterale Militärhilfe in einer effektiven Ausbildungs- und Beratermission … bündeln“. Weitere Schritte könnten beim Treffen der NATO-Außenminister beschlossen werden, das am Dienstag in der lettischen Hauptstadt Riga begann.