Zum Attentat von Solingen

Notlage des Kapitals

Ein Staat, der Jahr für Jahr 50.000 junge Leute ohne Abschluss aus seinen Schulen entlässt, leistet auch sonst für Daseinsfürsorge einschließlich der sogenannten Integration von Migranten immer weniger – proportional zum Rauswerfen gigantischer Summen für Rüstung und Krieg.

Die „nationale Notlage“, die Friedrich Merz nach dem Attentat von Solingen stellvertretend fürs Berliner Regierungspersonal bis hin zum BSW am Montag nach dem Gespräch mit Olaf Scholz ausrief, ist daher seit vielen Jahren da. Einige aktuelle Kerngrößen: Sechs Jahre wirtschaftliche Stagnation, enorme Reallohnverluste, Verrottung der Infrastruktur mit Ausnahme jener Teile, die für den Aufmarsch Richtung Osten benötigt werden, generell eine gesellschaftliche Verrohung, die auf Zuspitzung der Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse zurückzuführen ist. Die US-Internetkonzerne und ihre „sozialen Netzwerke“ rücken Debatten systematisch nach rechts bis hin zu den mit ihrer Hilfe von Faschisten organisierten Pogromen in Großbritannien. Die Antwort der bürgerlichen Klasse auf wachsende Unzufriedenheit lautet: Mehr in die Spaltung der Arbeiter- und Friedensbewegung stecken, die Repression erhöhen.

Thilo Sarrazin, eine Verkörperung der dominant werdenden Symbiose von Deutschnationalen und Neonazis, stellte kurz vor Merz‘ Ausrufung der „nationalen Notlage“ sein neuestes Buch vor. Es hätte auch vom CDU-Vorsitzenden sein können. Laut Sarrazin hat das Attentat in Solingen erneut bewiesen, dass „Integrationserfolge gar nicht vorhanden sind, auch nicht nach Jahren.“

Wohl wahr. Es fängt mit der verlogenen Vokabel „Integration“ an: Migranten sind keine Außerirdischen. Sie brauchen Bildung, funktionierende Schulen, qualifizierte Lehrer. Nicht „integriert“ sind die 50.000 Jugendlichen, die jährlich ohne Schulabschluss auf die Straße geworfen werden.

Die Herrschenden schlafwandeln nicht in Krieg und Krise. Für Krieg fördern sie sogar die soziale Auflösung. Denn ihr politisches Personal ist im Sinne von Domenico Losurdo beauftragt, den „vertikalen“, den sozialen Rassismus zu verschärfen und den „horizontalen“, den nationalistischen Rassismus dafür zu nutzen.

Die wieder einmal aus dem Ruder laufende Hetze gegen Migranten besagt: Die Wiederbelebung der Gewerkschafts- und Friedensbewegung wird dringender.

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"Notlage des Kapitals", UZ vom 30. August 2024



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