Als Friedrich Engels 1895 starb, war der wissenschaftliche Nachlass von Karl Marx noch weitgehend unerschlossen. Gewiss: nach dessen Tod war 1885 der zweite und 1894 der dritte Band des „Kapital“ erschienen. Aber das waren nur Teile aus der ungedruckten Textmasse. Engels wies Eduard Bernstein und Karl Kautsky in Marx‘ Handschrift ein, damit sie seine Herausgebertätigkeit fortsetzen konnten. Es erschienen die „Theorien über Mehrwert“, bereits früher publizierte Schriften wurden neu aufgelegt. Eine Gesamtausgabe aber fehlte lange Zeit.
In der Sowjetunion hat sie Dawid Borissowitsch Rjasanow in Angriff genommen. Seit 1927 und mit einem späteren Einzelband 1940 erschienen 14 Bände einer Marx-Engels-Gesamtausgabe (heute als „Erste MEGA“ oder „MEGA eins“ bezeichnet). Sie ging im Stalinschen Terror unter. 1931 wurde Rjasanow verhaftet, 1938 – wie auch andere Mitarbeiter – ermordet.
Der Nachlass von Marx und Engels befand sich im Eigentum der SPD und konnte im Faschismus in die Niederlande und auch dort vor dem Zugriff der deutschen Besetzer gerettet werden. Er befindet sich heute im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam.
Die Vorläufer
In der Sowjetunion erschienen Gesammelte Werke der beiden Begründer des Historischen Materialismus. In den fünfziger und sechziger Jahren folgte das Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (IML). Es handelt sich um die berühmten blauen Bände der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW), an der eine ganze Generation linker Intellektueller sich gebildet hat.
Die russische und die deutsche Version waren Studien-, keine Historisch-kritischen Ausgaben. Sie lieferten korrekt wiedergegebene Schriften, aber ohne Nachzeichnung der Textgeschichte, von Vorstufen und handschriftlichen Varianten. Diese Konzentration allein auf den Inhalt erleichterte die Lesbarkeit und diente dem Zweck, möglichst große Teile des Werks in relativ kurzer Zeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Als die MEW abgeschlossen war, stand eine Kohorte von noch jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der DDR bereit, die sich bei dieser Art der Edition qualifiziert hatten. Auf sie konnte Walter Ulbricht zurückgreifen, als er 1962 bei Chruschtschow eine historisch-kritische Gesamtausgabe anregte. So entstand die „MEGA zwei“. Deren erster Band erschien 1975. Herausgeber waren das IML in Berlin und das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU in Moskau. Auch Universitätsinstitute waren mit der Edition befasst – eine große Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Pro Jahr erschienen zwei bis drei Bände.
Mit dem Untergang der DDR war die MEGA gefährdet. Eine internationale Initiative von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern setzte sich für ihre Fortführung ein. In einem Gutachten befand in der Bundesrepublik der liberale Philosoph Dieter Henrich, dass die bisherigen Bände den wissenschaftlichen Editions-Standards in höchstem Maße entsprachen.
Der Neuanfang
Ab 1992 konnte die MEGA im Wesentlichen unverändert erscheinen, jetzt unter dem Dach der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) in Amsterdam, finanziert vom Akademienprogramm des Bundes und der deutschen Länder. Beteiligt sind das IISG, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), das Historische Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, das Russländische Staatliche Archiv für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI) in Moskau und ein Netzwerk von Einzelwissenschaftler(innen) in Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Österreich sowie den USA. Die Koordination liegt bei einer Arbeitsgruppe der BBAW. Eine Bedingung für das Fortbestehen war eine entpolitisierende Akademisierung: Marx und Engels als Teil der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts wie z. B. Alexander von Humboldt und die Brüder Grimm.
Diese Modifikation betrifft aber nur die Einführungen zu den einzelnen Bänden und Erläuterungen in den Apparaten, nicht die Textwiedergabe.
2015 gab die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK), die Nachfolgeorganisation der früheren Bund-Länderkonferenz für Bildungsplanung und Forschungsförderung, bekannt, dass die MEGA weiterhin finanziert werden wird, und zwar auf 16 Jahre.
Die Marx-Engels-Gesamtausgabe umfasst vier Abteilungen. Jeder Band besteht aus zwei Teilbänden. Der erste enthält den edierten Text, der zweite den Apparat: Varianten, Korrekturen, Erläuterungen.
In der ersten Abteilung erscheinen – mit Ausnahme des „Kapital“ – sämtliche Bücher, Broschüren, Artikel und Reden von Marx und Engels, die zu deren Lebzeiten veröffentlicht worden sind, hinzu kommen die Vorstufen, spätere Bearbeitungen und die von den beiden selbst vorgenommenen Übersetzungen. Mittlerweile sind hier 22 von 32 Bänden erschienen.
Die zweite Abteilung (15 Bände) umfasst „Das Kapital“. Sie ist inzwischen als Druckversion abgeschlossen. Zusätzlich können einige wichtige Teile jetzt auch im Netz unter der Adresse „telota.bbaw.de/mega“ eingesehen werden.
Die fünfzehn Bände der zweiten Abteilung werden künftig die Grundlage für die Erforschung des „Kapital“ bilden. Ein wichtiger Ertrag liegt seit Dezember 2017 vor:
Marx hat bekanntlich den ersten Band des „Kapital“ 1867 veröffentlicht, die zweite, deutlich veränderte Auflage brachte er 1872 heraus. An der nachfolgenden französischen Übersetzung hat er selbst mitgewirkt und erklärt, dass künftige Ausgaben sich danach richten sollten. Durch Eintragungen in Handexemplare und weitere Mitteilungen gab er außerdem Hinweise für eine spätere Version letzter Hand. Zu dieser kam er nicht mehr. Wenn wir heute den ersten Band des „Kapital“ in MEW 23 lesen, benutzen wir meist die von Friedrich Engels 1890 herausgegebene vierte Auflage, in der Marx‘ Vorschläge nur teilweise berücksichtigt sind. Thomas Kuczynski hat nunmehr eine Edition vorgelegt, die sämtliche Hinweise von Marx berücksichtigt, keine Ausgabe letzter Hand ersetzen kann, dieser aber näher kommt als alle bisherigen Editionen:
Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band
Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. Neue Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski. Hamburg 2017.
Es ist zu hoffen, dass andere für den zweiten und den dritten Band in gleicher Weise aus der zweiten Abteilung der MEGA schöpfen werden.
Eine noch nicht einmal zur Hälfte erledigte Baustelle ist die dritte Abteilung: sämtliche Briefe von und an Karl Marx und Friedrich Engels. Von den geplanten 35 Bänden sind erst 14 erschienen. Es stehen also noch 21 Bände aus. Sie sollen nicht mehr gedruckt, sondern nur noch als Digitalisate veröffentlicht werden.
Ähnlich sieht es mit der vierten Abteilung – Manuskripte und Exzerpte – aus. Bislang sind 14 von 32 Bänden erschienen. Hier werden nur noch die Exzerpte zur Agrochemie und die „Londoner Hefte“ 1850–1853 (Vorarbeiten zu den „Grundrissen“) gedruckt werden. Alles andere soll ausschließlich im Netz erscheinen.
MEGA digital
Die sich so abzeichnende Digitalisierung der MEGA verspricht Vorteile:
Der größte wird die sehr erweiterte Zugänglichkeit sein. Künftig wird für die MEGA open access gelten, nicht nur für die folgenden digitalen „Bände“, sondern hoffentlich auch für Scans früherer Druckausgaben.
So lassen sich Fehler leichter beheben. Sind die erst einmal gedruckt, sind sie allenfalls in einer späteren Auflage wieder zu reparieren. Anders steht es mit einer digitalen Ausgabe. Hier kann ein Scan gelöscht und korrigiert ersetzt werden.
Die Tatsache, dass seit 2015 ein großer Teil der Handschriften von Marx und Engels – nämlich soweit sie im IISG aufbewahrt werden – im Netz einsehbar ist („search.socialhistory.org/Record/ARCH00860/ArchiveContentList“), wird auch bei der Neuformatierung der MEGA wohl in Betracht kommen.
Die Nutzbarkeit
Aufgabe einer historisch-kritischen Ausgabe ist es bis, Texte in ihrer originalen Form unter Kenntlichmachung ihrer verschiedenen etwaigen Veränderungen so im Buchdruck wiederzugeben, dass die Benutzer/innen sich die jeweilige von den Urhebern (hier: Marx, Engels und ihre Korrespondenzpartner/innen) erstellte Fassung zu erschließen vermögen. Jetzt kann man das direkt im Netz sehen, aber mit Mühe: Marx‘ Handschrift ist schwer leserlich, die so genannte „Deutsche Schrift“ auch anderer Autoren (darunter Engels‘) ist heutigen (und wohl auch künftigen) Leser(inne)n nicht mehr geläufig. Umstellungen von Zeilen und ganzen Textblöcken bilden auf den Scans ebenfalls oft einen Wirrwarr. Also sind Transkriptionen, Varianten- und Korrekturenverzeichnisse weiterhin sinnvoll. Denkbar ist, dass in Zukunft Links von einer Stelle auf eine andere verweisen können und so eine Art Lotsenfunktion übernehmen.
In den Erläuterungen der Apparate zu den einzelnen Bänden werden zeitgeschichtliche Anspielungen entschlüsselt. Dieser Service bleibt, soll – aufgrund neuer Editionsrichtlinien gilt dies bereits seit einiger Zeit – aber auf das unmittelbar Sachdienliche beschränkt werden. Wo Marx, Engels und ihre Briefpartner(innen) auf andere Schriften – darunter Zeitungsartikel – und noch unveröffentlichte Handschriften hinweisen, werden diese in Archiven und Bibliotheken aufgesucht und mit ihren bibliografischen Angaben bzw. Signaturen verzeichnet. In wachsendem Maß stehen sie jetzt ihrerseits schon im Netz, das wird sich fortsetzen. Vorstellbar ist, dass künftig über Links zu ihnen hingeleitet wird.
Es gibt Risiken. Zum Beispiel: Was geschieht, falls irgendwann einmal die Netz-Infrastruktur zerstört werden sollte? So empfiehlt es sich, von jedem digitalen Band ein paar analoge Exemplare anzufertigen und zu archivieren.
Insgesamt kann dem Fortgang der MEGA eine gute Prognose gestellt werden. Frühere Bearbeiter/innen aus den Jahren bis 1989/91 blieben so lange in verschiedenster Weise eingebunden, dass kein Bruch entstand und Kontinuität gewahrt blieb, bis eine neue Wissenschaftler/innen-Generation allmählich eintreten konnte. Für korrekte Edition ist so gesorgt. Was politisch aus dem Werk von Marx und Engels werden wird, ist ohnehin keine Sache der Philologie.