Noch mehr Kriege?

Hans-Peter Brenner zum Antikriegstag

Grade lese ich einen beklemmenden Bericht des deutschen Franziskanerpaters Matthias Maier über seinen Besuch in der vom Krieg schwerst getroffenen syrischen Metropole Aleppo. Im völlig zerstörten Ostteil der Stadt können sehr viele Kinder trotz Schulpflicht nicht den Unterricht besuchen. Sie müssen arbeiten, um ihre kleineren Geschwister zu ernähren. Besonders beeindruckt war Maier von einer Begegnung mit einer Gruppe „nicht-registrierter“ Kinder, die nach Vergewaltigungen durch islamistische ISIS-Terroristen geboren wurden. Sie sind entweder von ihren Familien verstoßen worden, ihre Eltern wurden getötet oder sind ohne sie geflohen. „Man nennt sie die ‚namenlosen Kinder‘, weil niemand weiß, wie sie heißen oder wer sie sind“, erklärt der Pater. Viele von ihnen sind durch Kriegsverletzungen und Bombenschäden verletzt, traumatisiert und dauerhaft behindert.

Das ist nur eine kleine Facette aus dem Gesamttableau der vielen bedrohlichen und mörderischen Konflikte, die den diesjährigen Antikriegstag in einem besonderen Licht erscheinen lassen. Nicht nur die arabische Halbinsel und der ganze Nahe Osten sowie Teile Nordafrikas sind Kriegsschauplätze. Die Weichen auch für neue militärische Großkonflikte sind gestellt. Nach der Aufkündigung des INF-Vertrages von 1987 durch die USA, der die Entwicklung, Erprobung und Stationierung von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 bis 5 500 km verboten hatte, haben die USA sofort die nächst Provokation gestartet.

Sie testeten umgehend eine ihrer sehr schnell atomar bestückbaren Trägerraketen, die von vorgeschobenen Positionen in Europa – zum Beispiel von den strikt aggressiv russophobisch ausgerichteten NATO-Staaten Polen und des Baltikums aus – oder in Asien – von längst vorhandenen US-amerikanischen Stützpunkten im Pazifik aus – binnen weniger Minuten strategische Ziele in Russland oder China erreichen können. Die weltweite Unsicherheit, die sich seit dem vertragswidrigen Vorrücken der NATO an die Westgrenze Russlands bereits enorm verschärft hatte, wird nun immer stärker.

Vieles erinnert an die Zeit Anfang der 80er Jahre. Damals war es die Sowjetunion, heute ist es das nichtsozialistische Russland, das sich zu Gegenmaßnahmen gegen die USA und die NATO gezwungen sehen dürfte. Im Konfliktfall wäre es wie in den damaligen Kriegsszenarien: Vor allem Mitteleuropa, das bei einem kriegerischen Schlagabtausch als erstes in existentielle Mitleidenschaft gezogen würde, ist betroffen. Es geht um eine massive, lebensgefährliche Bedrohung für uns alle.

Doch es gibt heute nicht nur die wachsende Kriegsgefahr für uns Menschen. Es tobt ein regelrechter Krieg gegen die Natur. Auch hier sind es dieselben Motive: kapitalistische Profitgier, der Kampf um Rohstoffe – nicht nur im brennenden Amazonasbecken oder in der sibirischen Taiga, sondern neuerdings auch in bisher wenig erschlossenen arktischen Regionen. Sie gefährden oder zerstören immer mehr die natürlichen Grundlagen der Gattung Mensch. Unter wegtauendem, nicht mehr so „ewigem“ Eis lagern wertvolle und seltene Rohstoffe, auf die die internationalen großkapitalistischen Konzerne und ihre politischen Sachwalter zugreifen wollen. Und um die „Immobilie“ Grönland könnte es durchaus in nicht ferner Zukunft Krieg geben.

Der 1. September 2019 muss daher ein Tag werden, an dem unser Protest und Widerstand gegen die drohende Wiederholung oder Ausweitung der Schrecken der Kriege noch sichtbarer wird als in den Vorjahren, damit es nicht noch mehr „namenlose“ Kriegskinder gibt. Zugleich darf kurzsichtiges kapitalistisches Profitstreben unser aller „Mutter Natur“ nicht endgültig in die Knie zwingen, mit nicht mehr überschaubaren Folgen für unsere Lebensgrundlagen.

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"Noch mehr Kriege?", UZ vom 30. August 2019



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