Über zwölf Jahre Berufsverbot, verbunden mit fünfjähriger Arbeitslosigkeit und fünf Gerichtsprozessen – eine erschreckende Bilanz, auf die der inzwischen 70-jährige Grund- und Hauptschullehrer Matthias Wietzer aus Hannover zurückblickt. Nach der mit „Gut“ bestandenen zweiten Ausbildungsphase durfte er 1978 aus politischen Gründen die vorgesehene Stelle an der Orientierungsstufe Friesenstraße in Braunschweig nicht antreten. Danach verfiel er jedoch nicht in politische Resignation. Er wurde Ratsherr in der Landeshauptstadt Hannover und später Sprecher der „Bürgerinitiative gegen die Schließung der Stadtbibliothek Limmerstraße“. Nach erfolgreichem Eintreten gegen die Berufsverbote und seiner Verbeamtung auf Lebenszeit besitzt er heute zwei Dankesschreiben des Landes Niedersachsen. UZ sprach mit Matthias Wietzer, der sich bis heute an der Seite weiterer Betroffener für Rehabilitierung und Entschädigung engagiert.
UZ: Am 28. Januar jährt sich die Einführung des sogenannten Radikalenerlasses zum 50. Mal. Wie erinnerst du dich an die damalige Zeit?
Matthias Wietzer: Als junger Mensch, der nach gesellschaftlichen Antworten suchte, habe ich nach einer Orientierungsphase frühzeitig ein Interesse am Marxismus entwickelt. Der mörderische Krieg der USA gegen Vietnam, die Verabschiedung der Notstandsgesetze und das dreiste Auftreten der NPD und faschistischer Karrieristen haben erheblich dazu beigetragen, dass ich als Student in Göttingen Mitglied des MSB Spartakus wurde und 1973 in die DKP eingetreten bin.
UZ: Welche Rolle hat der „Verfassungsschutz“ bei deinem Verfahren gespielt?
Matthias Wietzer: Keine positive. Ich wurde bespitzelt, meine Grundrechte wurden eingeschränkt und hanebüchene „Erkenntnisse“ präsentierte der sogenannte Verfassungsschutz: Das reichte von Kandidaturen für MSB und DKP über eine Spende von 20 DM im Jahr 1973 für die „UZ“ bis hin zu einer „Plakatierung an einer genehmigten Werbefläche“ in einem Wahlkampf, untermauert durch eine „Zeugenerklärung“. Die Verteilung von DKP-Flugblättern zu den Berufsverboten und zum Filbinger-Skandal wurde mir ebenfalls zur Last gelegt. Selbst mein Engagement gegen die Büchereischließung und meine Teilnahme an der Ausstellungseröffnung „NATO-Krieg gegen Jugoslawien“ in einem Kulturzentrum in Hannover blieb den angeblichen „Schützern der Verfassung“ nicht verborgen.
UZ: 1978 wurdest du zu einer über dreistündigen „Anhörung“ ins Niedersächsische Innenministerium eingeladen. Was geschah dort?
Matthias Wietzer: „Anhörung“ ist auch ein sehr beschönigendes Wort, das war ein Verhör über meine politische Gesinnung, bei dem berufliche Aspekte und Qualifikationen, positive Stellungnahmen von Ausbildern, Eltern und Schulleitung keinerlei Rolle spielten. Das Gedächtnisprotokoll dieser „Anhörung“ wurde von meinem Rechtsanwalt Heinz Reichwaldt (ehemaliger Staatssekretär) im „Stader Tageblatt“ veröffentlicht. „Fühlte mich ins tiefe Mittelalter versetzt“, hieß es dazu in einem Leserbrief.
Für bezeichnend halte ich die späteren Karrieresprünge der damaligen „Anhörer“: Der Kommissionsvorsitzende wurde Regierungspräsident von Hannover, ein Weiterer Hannoverscher Amtsgerichtspräsident und ein Dritter Präsident des Landessozialgerichts Niedersachsen. Und ausgerechnet der Geschäftsführer dieser Kommission avancierte danach zum Landeswahlleiter in Niedersachsen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Ich zumindest bekam von ihnen eine schablonenhafte Ablehnung.
UZ: Hattest du damals Möglichkeiten, dich gegen die Verfolgung zur Wehr zu setzen?
Matthias Wietzer: Allein machen sie dich ein, aber Solidarität macht stark, heißt es so schön. Die Bewegung gegen Berufsverbote hat trotz kurzer Schwächeperioden zunehmend Erfolge erreicht. Wesentlich dazu beigetragen haben nationale und internationale Proteste gegen den Verfassungsbruch.
Bereits 1978 habe ich mich zusammen mit sechs weiteren Betroffenen an einem fünftägigen Hungerstreik gegen Berufsverbote beteiligt. In einer 1980 in den Hannoverschen Tageszeitungen veröffentlichten Anzeige der GEW forderten über 700 Menschen meine Einstellung in den Schuldienst, darunter die spätere Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, und der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Bundesweit wurden viele Initiativen gegründet und die Gewerkschaften, die anfangs auch mit Unvereinbarkeitsbeschlüssen gegen Betroffene reagierten, haben sich nach teilweise erfolgter Entschuldigung als konsequente und vorwärtsstrebende Kraft gegen die Berufsverbote positioniert.
Aber es ist ein seit Jahrzehnten währender Kampf, der bis heute für eine wirkliche Rehabilitierung und Entschädigung andauert. Durch vielfältige Veranstaltungen, Aktionen, Konferenzen und Demonstrationen haben sich die Betroffenen und ihre Initiativen zunehmend Gehör verschafft und auch bei den Medien eine jahrelange „Funkstille“ erfolgreich durchbrochen.
UZ: Nach über zwölf Jahren durftest du Anfang der 1990er Jahre dann doch Lehrer werden. Wie kam es dazu?
Matthias Wietzer: Die damalige niedersächsische Landesregierung unter Dr. Ernst Albrecht (CDU) betrieb eine äußerst rigide und rücksichtslose Berufsverbotepolitik: „Mit rattenhafter Wütigkeit“, so formulierte es derzeit der SPD-Fraktionsvorsitzende im niedersächsischen Landtag, Karl Ravens. Nach der erlösenden Abwahl dieser Landesregierung und der Etablierung der rot-grünen Schröder-Regierung wurden viele von uns eingestellt. Danach unterrichtete ich über 20 Jahre an einer Schule in der Region Hannover, war unter anderem Vorsitzender der Fachbereichskonferenz Geschichtlich-soziale Weltkunde (inklusive Religion) und auch Personalratsvorsitzender.
UZ: Kannst du mit dem Thema, das dich seit 40 Jahren bewegt, nicht endlich abschließen?
Matthias Wietzer: Leider nein, da gibt es noch vieles zu tun. Durch die Berufsverbote wurden Lebenswege zerstört, verbunden mit Diskriminierung, oftmals Arbeitslosigkeit und jetzt im späteren Lebensalter zum Teil durch die Bestrafung mit Altersarmut. Da meine erzwungene zwölfjährige „Auszeit“ nicht bei meinem Ruhegehalt angerechnet wird, bekomme ich monatlich eine um mehrere hundert Euro reduzierte Überweisung. Eine lebenslange Bestrafung also.
Zwar wurde 2016 den vom Berufsverbot Betroffenen „Respekt und Anerkennung“ vom Niedersächsischem Landtag ausgesprochen, von einer Pensionsreduzierung bis zum Tod war da jedenfalls nicht die Rede.
Gerade auch die derzeitigen Vorhaben von Bundesregierung und einigen Bundesländern sind besorgniserregend. Wiedereinführung der Regelanfrage, schnelle Entfernung von „Verfassungsfeinden“ scheinen an vergangene Zeiten anknüpfen zu wollen und Lernprozesse zu ignorieren. „Unfug braucht keine Wiederholung“, so kommentiert der Journalist Heribert Prantl die Überlegungen, einen „neuen“ Radikalenerlass einzuführen.
UZ: Was erwartest du von den politischen Entscheidungsträgern auf Bundes- und Landesebene?
Matthias Wietzer: Ich erwarte, dass endlich nach 50 Jahren dieser unselige „Radikalenerlass“ mit all seinen Auswirkungen aus der Welt geschafft wird. Er war und ist Unrecht und Verfassungsbruch. „Nie wieder dürfen politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein“, heißt es in einem 2016 gefassten Beschluss des Niedersächsischen Landtages. Das sollte eigentlich überall gelten, die Realität sieht leider anders aus. Die Betroffenen erwarten eine Entschuldigung für die staatlichen Rechtsverletzungen und eine vollständige Rehabilitierung. Bundesregierung, Bundeskanzler und die Landesregierungen sind da gefordert und das immer noch unsinnige Gerede von der „Rechtsstaatlichkeit der damaligen Verfahren“ muss ein Ende haben. Wir erwarten eine Aufhebung der bis heute bestehenden diskriminierenden Gerichtsurteile, die als Grundlage die höchstrichterliche „Rechtsprechung“ belasteter NS-Juristen haben. Des Weiteren ist eine bundesweite wissenschaftliche Aufarbeitung der Folgen der Berufsverbote erforderlich, ebenso die Herausgabe und anschließende Vernichtung der Akten des „Verfassungsschutzes“. Letztlich ist auch eine materielle Entschädigung der Betroffenen überfällig. Der DGB hat zur Wiedergutmachung Forderungen erarbeitet, die von einer Nachversicherung bei der Rentenversicherung bis hin zur Einrichtung eines Fonds reichen.
Viele der damals Betroffenen sind mittlerweile hochbetagt, einige auch bereits gestorben. Es darf nicht weiter darauf spekuliert werden, dass sich die Berufsverbotsfrage „biologisch“ erledigt. Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Und zwar jetzt!