Über unbegreifliche Enttäuschungen von Wählerinnen und Wählern der Grünen

Nichts zu verlieren als Lützi?

Der Verstand glaubt stets, dass wahr ist, was er fürchtet“ – diese feine Sentenz wird dem römischen Dichter Ovid zugesprochen. Sinngemäß ließe sich schlussfolgern, dass mangelnde Urteilsfähigkeit glaubt, dass wahr ist, was sie sich wünscht.

Eben dieses Fehlen intellektueller Kompetenz muss es sein, das Menschen, die bei den letzten Bundestags- oder den diesjährigen NRW-Landtagswahlen die Grünen gewählt haben, angesichts von deren aktuellem Pakt mit RWE Enttäuschung fühlen lässt. Kann man seit der ersten SPD/Grünen-Regierung ab 1998 durchgängig die Augen verschlossen haben? Vor der Jugoslawien-Bombardierung, den Hartz-Verarmungsgesetzen und allem, was seitdem Jahr für Jahr darüber hinaus ungeachtet vieler Wahlkampfversprechungen umgesetzt wurde? Und diejenigen, die nicht das Lebensalter haben, alle (Ent-)Täuschungen selbst durchgemacht zu haben, sollten vor knapp zwei Jahren wenigstens von der gewaltsamen Räumung des Dannenröder Forstes zwecks Autobahnbau gehört haben – abgesegnet vom grünen Verkehrsminister Hessens, Al-Wazir. Ganz abgesehen von den zuvorderst von grünen Politikern geforderten und umgesetzten Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und an Kriegsparteien wie die Ukraine oder Saudi-Arabien oder dem aktuellen Faible für Frackinggas und Erdöl. Unbegreiflich, dass es Menschen gibt, die all das wissen und „jetzt aber nie mehr grün wählen“ wollen.

Mag sein, dass die innere Überzeugung beim „nie mehr diese Partei wählen“ in Wirklichkeit mit dem „Nie mehr Krieg“ der Achzigerjahre-Pazifisten korreliert, deren Partei mit Bomben auf Belgrad zwecks Kosovo-Abspaltung übrigens weltweit die Blaupause für Sezessionskriege aller Art lieferte: Ganz so tief ist die Überzeugung vielleicht nicht.

Aber da ist außerdem das „jetzt aber“, das nach einer tiefen Verletzung klingt. Die gibt es meist dann, wenn ein Symbol bedroht ist.

Dieses Symbol ist „Lützi“. Lützerath liegt mitten im rheinischen Braunkohlerevier, direkt an der Abbruchkante zum Tagebau. Wie inzwischen sechzig weitere Ortschaften am Niederrhein, die in hundert Jahren den Baggern weichen mussten, ist Lützerath längst den Profitinteressen der Energiewirtschaft, aber auch den Notwendigkeiten einer Gesellschaft zum Opfer gefallen, die sich mit den Folgen ihres konsum-orientierten Handelns nicht gern auseinandersetzt. Vor zwei Wochen verließ der letzte Bewohner den Ort.

Nach der Ankündigung, dass ein Dorf auf Braunkohle liegt und verschwinden muss, gingen in den Jahrzehnten immer zuerst diejenigen, die wenig Bezug zum Ort hatten oder glaubten, sie seien von RWE gut entschädigt worden. Ein paar Jahre länger blieben diejenigen, die um bessere Gegenleistungen pokern wollten. Die letzten sind dann die, denen es mehr um die Dorfgemeinschaft geht als um Geld – alte Menschen oder Landwirte, deren Familien hunderte Jahre dort geackert haben; so auch in Lützerath. Dessen Bewohnerschaft hat sich längst in den umliegenden Dörfern angesiedelt, weshalb auch eine Schonung des Dorfs die Ortsstruktur nicht mehr zurückbrächte.

Dennoch wird das Dorf von Klimaaktivistinnen und -aktivisten besetzt, die seinen Erhalt erzwingen wollen. Die unter ihnen, die sich vom Deal der grünen NRW-Wirtschaftsministerin Neubaur mit RWE, das für längere Laufzeit von zwei Kraftwerken im Gegenzug angeblich acht Jahre früher als geplant aus dem Braunkohleabbau aussteigt, betrogen fühlen, werden einen Kampf um ein Symbol führen und sich alsbald dem nächsten Projekt zuwenden, für dessen Erhalt sie sich anketten werden. Dass sie eigentlich andere Ketten zu verlieren haben, sollte zu den Wahrheiten gehören, die der Verstand nicht fürchten muss.

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"Nichts zu verlieren als Lützi?", UZ vom 14. Oktober 2022



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