Wer wissen möchte, wie Dortmunder Polizisten ticken, reihe sich ein in die Besucherschlange vor dem Landgericht Dortmund am Morgen eines Prozesstages, an dem fünf ihrer Kollegen vor Gericht stehen. Etwa die Hälfte der Prozessbesucher scheinen Polizisten oder Familienangehörige der Angeklagten zu sein, die andere Hälfte Aktive des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed. Einer aus dieser zweiten Gruppe zeigt sich im Gespräch mit UZ nach dem achten Prozesstag völlig entgeistert. Er berichtet, ein solcher Polizist habe in Kolonialmanier von Großwildjagd in Mosambik und Südafrika erzählt, andere wilde Mutmaßungen darüber angestellt, wer denn die rechtsanwaltlichen Vertreter der Nebenklage bezahle.
Azubis als Zeugen
Am 13. März, dem achten Prozesstag, sagen zwei Polizisten als Zeugen aus, die an dem tödlichen Einsatz gegen Mouhamed Dramé am 8. August 2022 teilgenommen hatten – als Kommissaranwärter. Frau B., heute 24 Jahre alt, und Herr P., heute 22 Jahre, machten damals ihr erstes Praktikum im Rahmen ihrer Polizeiausbildung. Beide schildern den Einsatz jeweils aus ihrer Perspektive, bevor sie sich den Fragen der Richter, Staatsanwaltschaft und der Vertreter der Nebenklage stellen müssen. Beide tragen selbstsicher vor, kommen bei den Nachfragen aber schnell ins Schwimmen – ganz wie diejenigen ihrer Kollegen, die am sechsten und siebten Verhandlungstag als Zeugen geladen waren.
Frau B. gehörte der Einheit an, die als letzte in der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth in der Dortmunder Nordstadt eintraf. Sie versah ihren Dienst zusammen mit Jeannine B., die auf der Anklagebank sitzt, weil sie Reizgas gegen Mouhamed Dramé eingesetzt haben soll, und mit Markus B., der den 16-jährigen getasert haben soll. Die drei waren auf der Missundestraße eingesetzt. Als Mouhamed Dramé erschossen wurde, standen sie nicht im Innenhof der Jugendhilfeeinrichtung, sondern jenseits des Zauns, südlich davon.
„Akku rausgefallen“
Zeugin B. schildert, sie sei mit ihren beiden Kollegen dorthin gerannt. Weil dabei der Akku aus ihrem Funkgerät „gefallen“ sei, habe sie keine Anweisung wahrnehmen können, Pfefferspray einzusetzen. Sie habe den Akku erst „wieder reinfummeln“ müssen. Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der zusammen mit Rechtsanwältin Lisa Grüter die Nebenklage vertritt, fragt sie später, weshalb sie gerannt sei. Das wisse sie nicht, antwortet Frau B., sie sei einfach ihren Kollegen hinterher gerannt. Heute wisse sie nicht mehr, wer den Einsatz auf der Missundestraße angeordnet habe. Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm hält Frau B. ihre Zeugenaussage bei der Polizei Recklinghausen vor: Damals habe sie gesagt, der Vorschlag sei von Markus B. gekommen, die Anordnung dann von Dienstgruppenleiter Thorsten H.
Von ihrem Standort aus habe sie Mouhamed Dramé sehen können, schildert Zeugin B. Er habe einen Gegenstand in der rechten Hand gehalten, sie habe aber nicht sehen können, welchen genau. Richter Kelm will wissen, ob der Einsatz des Reizgases angedroht worden sei. Das wisse sie nicht mehr, antwortet Frau B., sie sei damals ja erst seit kurzem im Praktikum gewesen. Diese Antwort wird zu einem der zwei Running Gags, die sich Prozessbeobachter nach dem achten Verhandlungstag erzählen. Jeannine B. habe durch den Zaun hindurch mit dem Pfefferspray auf Mouhamed Dramé gezielt. Zeugin B. sah eine „klassische Sprühfontäne“, behauptet aber, sie habe nicht wahrnehmen können, ob das Opfer getroffen wurde und sich über den Kopf wischte. Richter Kelm zitiert aus ihrer Zeugenvernehmung kurz nach der Tat. Dort hatte B. zu Protokoll gegeben, Mouhamed Dramé sei „am Hinterkopf“ getroffen worden.
Kurz darauf, erzählt B. vor dem Landgericht Dortmund, habe Markus B. das „Distanzelektroimpulsgerät“ gegen den Jugendlichen eingesetzt. Daraufhin habe sich Mouhamed Dramé in gebeugter Haltung auf die Kollegen zu bewegt, die im Innenhof standen. An dessen Geschwindigkeit will sie sich nicht mehr erinnern können. Dann habe sie Schüsse gehört, sagt Zeugin B. Ihre Aufgabe sei es danach gewesen, Schaulustige vom Tatort fern zu halten.
Thomas Feltes fragt Frau B., ob es in den Tagen nach der Tat Gespräche unter Kollegen über den tödlichen Einsatz gegeben habe. Davon habe sie nichts mitbekommen, behauptet B. „Sie haben nie über diesen Vorfall gesprochen?“, hakt Feltes nach. „Nur, wie’s mir geht, aber nie über den Vorfall“, behauptet B. Für Feltes ist das schwer zu glauben.
Gespräche unter Kollegen nach einem tödlichen Einsatz, zumal mit Auszubildenden, die sich um nichts als persönliche Befindlichkeit drehen? Das wird zum zweiten Running Gag dieses Prozesstags.
Zeuge P. war an jenem 8. August 2022 zusammen mit Pia B. und Fabian S. im Einsatz. Fabian S. ist derjenige, der Mouhamed Dramé mit fünf Schüssen aus einer MP5 durchsiebt haben soll. Pia B. soll ein Distanzelektroimpulsgerät gegen den Geflüchteten aus Senegal eingesetzt haben.
P. behauptet, nach dem Reizgaseinsatz habe Mouhamed Dramé kurz in Richtung der im Innenhof der Jugendeinrichtung eingesetzten Polizisten geschaut, bevor er „auf uns zu gelaufen“ sei. Das widerspricht anderen Zeugenaussagen.
Alles vergessen
Richter Kelm befragt Herrn P. zur Einsatzbesprechung. „Mir wurde gesagt, dass ich einen Einsatzmehrzweckstock mitnehmen soll“, sagt P. „Das habe ich gemacht.“ Im allgemeinen Sprachgebrauch wird ein solcher Einsatzmehrzweckstock meist als Schlagstock bezeichnet. Er dient als Prügelwerkzeug („Räum-/Abdrängstock“) – und als Selbstschutz, um Menschen auf Abstand zu halten. Seinen Einsatz scheint an jenem 8. August 2022 keiner der Beamten erwogen zu haben.
Zeuge P. zeigt auffällig viele Erinnerungslücken, als Richter Kelm, die Staatsanwaltschaft und die Anwälte der Nebenklage ihn befragen. Ob er eine Diskussion mitbekommen habe, weshalb ein „Sicherungsschütze“ nötig sei? „Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagt P. Ob über die Reihenfolge des Einsatzes polizeilicher Zwangsmittel gesprochen worden war? „Nicht, dass ich mich erinnern kann.“
Wie Mouhamed Dramé das Küchenmesser hielt, als er sich auf die Polizisten zu bewegte – auch daran kann P. sich nicht mehr erinnern. Heute sagt er, er erinnere sich daran, das Messer in seiner Hand gesehen zu haben. Richter Kelm liest aus dem polizeilichen Vernehmungsprotokoll vor. Darin steht, P. wisse nicht, wo das Messer zu dem Zeitpunkt war. Die Vernehmung durch die Polizei Recklinghausen fand wenige Tage nach der Tat statt.
Wie Mouhamed Dramé seine Arme hielt, als er sich auf die Polizisten zu bewegte? „Das kann ich nicht sagen.“ Wie er „fixiert“ worden sei, nachdem er zu Boden gestürzt war? Durch H., den Dienstgruppenleiter, wer sonst noch daran beteiligt war, wisse er nicht mehr, sagt P. Er habe das Messer mit zur Wache genommen. „Ich weiß nicht, wer es mir gegeben hat. Ich weiß nicht, wer es gefunden hat.“
Nichts gelernt
Große Lücken weist P. auch auf, wenn es um Inhalte seiner Ausbildung geht. Oberstaatsanwalt Carsten Dombert fragt den Kommissaranwärter, wozu überhaupt ein „Sicherungsschütze“ bestimmt worden sei. „Um abzusichern“, sagt P., und: „Ich bin Berufsanfänger. Da gibt es Kollegen, die das viel besser wissen.“ Warum Reizgas eingesetzt worden sei, will Dombert wissen. „Ich bin Berufsanfänger“, weicht P. aus. Vermutlich, ergänzt er dann, weil er sich danach über die Augen wischen und das Messer weg legen würde. „Sie sind ja nun zwei Jahre weiter mit Ihrer Ausbildung“, sagt Dombert. „Nochmal: Aus heutiger Sicht – warum Reizgas?“ „Das kann ich nicht sagen“, sagt P. und stottert, der Sinn dahinter sei wahrscheinlich gewesen, die Lage zu lösen.
Auf ihn habe der 16-jährige Geflüchtete bedrohlich gewirkt, behauptet P. „Er hatte ein Messer in der Hand und lief auf uns zu.“ Wir erinnern uns: Bei seiner polizeilichen Vernehmung kurz nach der Tat hatte P. gesagt, in dieser Situation habe er nicht gewusst, wo das Messer war.
„Nur über Gefühle gesprochen“
Bei so eklatanten Defiziten in der Ausbildung ist es um so erschreckender, dass P. bei diesem Einsatz bereits eine Dienstwaffe dabei hatte. Acht Monate nach Ausbildungsbeginn.
Die Vertreter der Nebenklage befragen P. ausführlich zu Gesprächen im Kollegenkreis nach dem tödlichen Einsatz. „Haben Sie in den Wochen, Monaten nach dem Einsatz mit Kollegen darüber gesprochen?“, fragt Thomas Feltes. „Mit meinem Vater“, sagt P. Feltes insistiert, er habe nach Kollegen gefragt. „Ja – also, wie’s uns geht. Nicht über den Vorfall.“ Absprachen habe man nicht getroffen. „Was ist denn eine Absprache?“, bohrt Feltes nach. „Also nur über Gefühle“, antwortet P.
„Sie sind noch in Ausbildung. Hat Sie das nicht interessiert, ob es unterschiedliche Herangehensweisen gegeben hätte?“, fragt Polizeiwissenschaftler Feltes. „Ja“, sagt P., „aber ich habe nicht mit Kollegen darüber gesprochen.“
Feltes hält P. eine Sprachnachricht vor, die die Angeklagte Pia B. nach dem Einsatz via WhatsApp an Kollegen verschickt hatte. Aus der geht hervor, dass sich die Kollegen „natürlich“ über den Einsatz unterhielten – und feststellten, dass man „ein paar Sachen anders“ hätte machen können. Feltes zitiert wörtlich aus der Nachricht: „Der war Psycho, keine Frage, trotzdem: Hätten wir die Lage nicht auch statisch halten können?“
Immerhin: Was das bedeutet, weiß P. „Die Lage einfrieren, um gegebenenfalls weitere Kräfte anzufordern.“ Mehr fällt ihm dazu nicht ein, er sei ja Berufsanfänger.
Pia B. war zum Zeitpunkt des tödlichen Polizeieinsatzes die Tutorin des Kommissaranwärters P. Rechtsanwältin Lisa Grüter erkundigt sich, welche Aufgaben eine Tutorin habe. „Mir Sachen beizubringen, Fragen zu beantworten“, sagt P. Ob man Einsätze nachbespricht? „Bei Bedarf auf jeden Fall.“ Und im konkreten Fall? „B. hat mich nur gefragt, wie’s mir geht.“ Frau B. sei ja nicht seine Psychologin, stellt Grüter entgeistert fest. „Sie wollen uns erklären, Sie haben Ihrer Tutorin keine Fragen zu dem Einsatz gestellt?“ Nein, behauptet P. lapidar.
Medien gegenüber sagt Grüter später: „Entweder ist seine Ausbildung richtig beschissen, oder er lügt uns an. Das halte ich für absolut ausgeschlossen, dass er nicht irgendwann im Rahmen seines Praktikums mit seiner Tutorin diesen Einsatz nachbesprochen hat.“
Lisa Grüter will dann noch wissen, welchen Beruf der Vater von P. habe. Der Zeuge hatte schließlich angegeben, mit ihm „viel“ über den Einsatz gesprochen zu haben. Polizist sei der, sagt P., Leiter einer Einsatzhundertschaft der Dortmunder Polizei. Auf Nachfrage behauptet P. jetzt, ihm keine Fragen zum Einsatz gestellt zu haben.
Im Verlaufe der Vernehmung stellt sich heraus, dass Pia B. ihrem Auszubildenden P. geraten hatte, aufzuschreiben, wie er den Einsatz aus seiner Sicht erlebt hatte. „Irgendwo werden die Notizen sein“, sagt P. zu deren Verbleib, „abgespeichert. Weiß nicht, wo.“
Korpsgeist
Sechs Polizisten, die an dem tödlichen Einsatz beteiligt waren, aber nicht angeklagt sind, haben bislang als Zeugen in dem Strafprozess ausgesagt. Sie haben den Eindruck entstehen lassen, dass der Einsatz an jenem 8. August 2022 völlig überhastet ablief. Niemand schien sich die Zeit zu nehmen, über Alternativen zum Einsatz polizeilicher Zwangsmittel nachgedacht zu haben. Erinnerungslücken, so scheint es, haben sie immer dann, wenn Aussagen ihre Kollegen belasten könnten. Sind ihre Erinnerungen über eineinhalb Jahre nach der Tat plötzlich lebhafter geworden als unmittelbar danach, nützen die zufälligerweise den Angeklagten. Vollkommen unglaubwürdig sind die Behauptungen sämtlicher Polizeibeamten im Zeugenstand, man habe nach dem tödlichen Einsatz nur über persönliche Befindlichkeiten gesprochen, nicht über Einsatztaktik. Das belegen Beweise, die von den Vertretern der Nebenklage und teils auch der Staatsanwaltschaft eingebracht werden. Die Beamten müssen sich sicher gefühlt haben: Aus der Sprachnachricht von Pia B. geht hervor, dass keiner von ihnen an der „Rechtmäßigkeit“ des tödlichen Einsatzes gezweifelt hat.
Der polizeiliche Korpsgeist treibt Frühlingsblüten aus im Saal 130 des Dortmunder Landgerichts. So ticken Dortmunder Polizisten.
Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.