Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke endet in Uneinigkeit. Regierung sieht nur wenig Fehler

Nicht zu verhindern?

Bewaffnet mit einem fünfschüssigen Revolver verschaffte sich Stephan Ernst am späten Abend des 1. Juni 2019 Zutritt zum Privatanwesen des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) und tötete ihn mit einem gezielten, aus kurzer Distanz abgegebenen Schuss in den Kopf. Im Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 28. Januar 2021, das eine lebenslange Haftstrafe aussprach, werden als Motive der Tat Rassismus und Ausländerfeindlichkeit benannt, der Verurteilte habe in Lübcke einen „Volksschädling“ gesehen.

Mitangeklagt war Markus H., der nach der Anklage der Bundesanwaltschaft Beihilfe zur Mordtat geleistet haben soll. Beide Angeklagten kannten sich seit vielen Jahren, teilten das gleiche hasserfüllte menschenfeindliche Gedankengut und führten regelmäßig gemeinsame Schießübungen in Wäldern und in Schützenvereinen durch. Das Gericht sprach Markus H. von diesem Vorwurf frei und verurteilte ihn lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Bewährungsstrafe. Mittlerweile sind beide Urteilssprüche rechtskräftig. Obschon es im Strafverfahren etliche Hinweise gab, dass Ernst und Markus H. in der Region um Kassel, Nordthüringen und Südniedersachsen mit Gleichgesinnten intensiv vernetzt waren und auch Spuren zur Neonazi-Gruppe „Combat 18 Pinneberg“ und in das Umfeld der Mörderbande des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) führten (am 6. April 2006 wurde in Kassel Halit Yozgat vom NSU ermordet – ein früherer Verfassungsschützer, später Mitarbeiter im Regierungspräsidium Lübckes, war zur Tatzeit nur wenige Meter vom Tatort entfernt), sah das Oberlandesgericht in Stephan Ernst nur einen Einzeltäter.

Seit wenigen Tagen liegen nun die Abschlussberichte des Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags vor, der sich mit der Aufarbeitung von 2.800 Aktenordnern und mit der Einvernahme von 55 Zeugen mehr als drei Jahre mit den Hintergründen des Mordes beschäftigt hat. Da sich die Fraktionen des Landtags nicht auf ein gemeinsames Ergebnis einigen konnten, gibt es neben dem Bericht der Regierungsfraktionen von CDU und Grünen gesonderte Berichte von SPD und FDP, von der AfD und der Linksfraktion. In den insgesamt etwa 1.500 Seiten wird die Rolle des hessischen Verfassungsschutzes deutlich. Im Papier der Landesregierung heißt es mit nicht zu übersehender Vorsicht: „Die Gefährlichkeit von Stephan Ernst steht rückblickend allerdings außer Frage. Somit war die Entscheidung, ihn nicht weiter zu beobachten, aus heutiger Sicht fehlerhaft.“ Der Verfassungsschutz hatte den Fall „Ernst“ 2015 nach 16 Jahren Beobachtung auf den Stapel der erledigten Akten gelegt.

Torsten Felstehausen, Obmann der Fraktion „Die Linke“ im Ausschuss: „Dass die Akte eines militanten Neonazis im Massenverfahren und ohne Prüfung gelöscht wurde, ist fahrlässig. Dass dieser Vorgang insgesamt nicht nur eine, sondern 1.345 Personen betroffen hat, ist desaströs. Der Inlandsgeheimdienst hat im Kampf gegen Rechts einmal mehr versagt.“ Das für die Ausforschung Ernsts zuständige Dezernat 22 des hessischen Verfassungsschutzes werkelte über Jahre weitgehend isoliert vor sich hin, Datenabgleiche mit den Dienststellen der Polizei, der Waffenbehörden und den Dienststellen anderer Landesverfassungsschutzämter waren die Ausnahme. Zusätzlich beklagten die Dezernatsmitarbeiter in den Vernehmungen durch den Untersuchungsausschuss ihre Arbeitsüberlastung.

Was bleibt? Die Regierungsfraktionen der CDU und der Grünen konnten zufrieden feststellen: „Der Mord an Dr. Walter Lübcke war nicht zu verhindern“, sagt der CDU-Obmann Holger Bellino im Untersuchungsausschuss und fügt hinzu, beim Verfassungsschutz habe man lediglich „an einzelnen Stellen weiteres Verbesserungspotenzial identifiziert“. Schade, dass Walter Lübcke diese Sätze nicht mehr hören kann.

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"Nicht zu verhindern?", UZ vom 28. Juli 2023



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