Nach Griechenland-Einigung: deutlich, wer die Macht hat

Nicht zu unterschätzen

Von Olaf Matthes

Bei Lenin gelesen

(…) Der „Druck“ auf Griechenland war von derselben Art wie der, den unlängst, wenn man den Zeitungen glauben darf, in Russland die unwissenden Bauern eines hinterwäldlerischen Dorfes anwandten, die einen Bürger, dem sie Beleidigung der christlichen Religion vorwarfen, zum Hungertod verurteilten.

Die unwissenden Bauern in einem halbbarbarischen Winkel Rußlands lieferten einen „Verbrecher“ dem Hungertod aus. Die „zivilisierten“ Imperialisten (…) ließen ein ganzes Land, ein ganzes Volk hungern, um es durch diesen „Druck“ zu veranlassen, seine Politik zu ändern. (…)

Das ist die reale Situation der internationalen Beziehungen in der Zeit, in der wir leben (…)

Wladimir Iljitsch Lenin, „Prawda“, Nr. 72, 16. (3.) Juni 1917

„Wir haben ihre Macht unterschätzt“ – das sagt ein hochrangiger Berater der griechischen Regierung zu den Verhandlungen mit den Gläubigern. Sie hatten es mit Argumenten versucht – mit der Feststellung, dass die griechischen Staatsschulden nicht tragfähig sind, dass die Politik der Massenverelendung keinen Ausweg aus der Wirtschaftskrise bietet. Sie hatten es mit einer demokratischen Entscheidung versucht – mit dem überwältigenden „Nein“ beim Referendum, mit dem die Menschen in Griechenland einem neuen Diktat der Gläubiger eine Absage erteilen wollten. Im Interview mit der französischen Online-Zeitung „Mediapart“ beschreibt der griechische Regierungsberater, der anonym bleiben will, wie die Regierung im Laufe des März und April alle Reserven staatlicher Einrichtungen und der Kommunen zusammenkratzte, um IWF-Kredite zu bedienen und Gehälter zu bezahlen, wie sie versuchten, eine „politische Lösung“ zu finden, und wie all das nicht ausreichte. Gegen das Diktat der EU-Regierungen, gegen die Macht der großen Kapitalgruppen konnten Argumente nichts ausrichten. Die Erpresser ließen sich auch durch monatelange Verhandlungen nicht dazu bewegen, von der weiteren Erpressung Abstand zu nehmen.

Auf dem EU-Gipfel Anfang dieser Woche beschlossen die Regierungschefs, was das griechische Parlament in den kommenden Tagen und Wochen abzunicken hat, damit Griechenland neue Kredite erhält, um die alten zu bedienen – und bis wann. Bis zum vergangenen Mittwoch sollte das Parlament die seit langem geplanten Veränderungen der Mehrwertsteuer und des Rentensystems beschließen, Maßnahmen, mit denen wieder einmal die breite Bevölkerung zur Kasse gebeten wird. Außerdem wurde die griechische Regierung dazu verpflichtet, „hohe Vermögenswerte“ an einen Fonds zu übertragen, um sie zu Geld zu machen. Der „unabhängige“ Fonds soll „unter Aufsicht der maßgeblichen europäischen Organe“ stehen – bisher sollte Griechenland zu Privatisierungen gezwungen werden, nun übernehmen die Gläubiger dieses Geschäft einfach selbst. „Modernisierungen“ der Arbeitsmärkte, Deregulierungen im Handel und bei geschützten Berufen, die Absage an einen Schuldenschnitt und neue Verfahren, um das Gläubiger-Diktat reibungslos durchzusetzen sind weitere Punkte, zu denen Griechenland verpflichtet wird. Und: Wenn die griechische Regierung sich diesem Diktat unterwirft, erkauft sie damit noch keine neuen Kredite – sie erkauft mit der nächsten Runde der Politik gegen die eigene Bevölkerung nur, dass überhaupt die Verhandlungen über neue ESM-Kredite aufgenommen werden.

Damit die Verhandlungen über das eigentliche „Hilfsprogramm“ des ESM aufgenommen werden können, muss eine Reihe nationaler Parlamente – darunter der Bundestag – zustimmen. Vor dem EU-Gipfel hatte es scharfe Kritik aus der Unionsfraktion an der Haltung Merkels gegeben – der Inhalt des Abkommens hat dafür gesorgt, dass diejenigen, die ein neues Spardiktat für zu großzügig halten, weniger geworden sind. Die Linkspartei kritisierte die „Einigung“ mit Griechenland, der Parteivorsitzende Riexinger sagte, er könne sich „nicht vorstellen, dass die Linke einem solchen Austeritätsprogramm zustimmen wird.“

Die Linkspartei hatte bisher stets gegen die so genannten Rettungspakete gestimmt – mit einer Ausnahme: Nachdem die Syriza-Anel-Koalition im Januar an die Regierung gekommen war, hatte die Linkspartei-Fraktion im Bundestag mehrheitlich für eine Fortführung des alten Memorandums gestimmt.

Um die neue „Vereinbarung“ mit den Gläubigern zu treffen, musste der griechische Ministerpräsident Tsipras das Parlament überzeugen. In seiner Rede verschwieg er nicht, dass die geplanten Maßnahmen von den Wahlversprechen und den bisherigen Erklärungen seiner Partei „erheblich abweichen“. Aber: „Unsere nationale Pflicht ruft uns zu schwierigen Entscheidungen.“ Die Vereinbarung bringe auch die Aussicht einer angemessenen Finanzierung für die kommenden drei Jahre, die Gläubiger hätten ein Investitionsprogramm versprochen, „und zu ersten Mal gibt es eine ernsthafte und bedeutende Debatte über die notwendige Umstrukturierung der Schulden“. Die Einigung könne ein „positives Signal an die Märkte und Investoren senden“, dass sie der „griechischen Wirtschaft wieder vertrauen können“.

Bei Lenin gelesen

(…) Der „Druck“ auf Griechenland war von derselben Art wie der, den unlängst, wenn man den Zeitungen glauben darf, in Russland die unwissenden Bauern eines hinterwäldlerischen Dorfes anwandten, die einen Bürger, dem sie Beleidigung der christlichen Religion vorwarfen, zum Hungertod verurteilten.

Die unwissenden Bauern in einem halbbarbarischen Winkel Rußlands lieferten einen „Verbrecher“ dem Hungertod aus. Die „zivilisierten“ Imperialisten (…) ließen ein ganzes Land, ein ganzes Volk hungern, um es durch diesen „Druck“ zu veranlassen, seine Politik zu ändern. (…)

Das ist die reale Situation der internationalen Beziehungen in der Zeit, in der wir leben (…)

Wladimir Iljitsch Lenin, „Prawda“, Nr. 72, 16. (3.) Juni 1917

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"Nicht zu unterschätzen", UZ vom 17. Juli 2015



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