Leseland ist abgebrannt?
Zum Umgang mit der
DDR-Literatur nach 1990.
Tagung am 22. Juni in Leipzig, Villa Davignon, Friedrich-Ebert-Straße 77, 10 Uhr bis 17 Uhr. Eintritt 4 Euro
Am 14. August 2016, zwei Monate nach seinem 90. Geburtstag, starb der Schriftsteller Hermann Kant in seinem Wohnort Neustrelitz. Seit Mitte der 90er Jahre war der Verfasser von Romanen wie „Die Aula“ und „Der Aufenthalt“, die mit Recht als Jahrhundertromane bezeichnet werden können, in dem kleinen Dorf Prälank zu erreichen, das in die Kleinstadt eingemeindet wurde. Auf dem winzigen Waldfriedhof des Ortes ist sein Grab – inmitten der kleinen mecklenburgischen Seenplatte, wo ein See in den anderen übergeht, bewaldete Hügel, Heideflächen und Wiesen eine der schönsten Landschaften der Bundesrepublik formen – eine Idylle.
Zu seinem Geburtstag hatte ihn die „Mitteldeutsche Zeitung“ angerufen. Er sagte ihr zum Umgang mit ihm und mit der DDR hierzulande: „Manchen kann es nicht vorbei genug sein, sie wollen immer noch einmal siegen.“ Das war, als hätte Kant schon die Nachrufe auf sich selbst gekannt. Die „Deutsche Presseagentur“ lieferte an seinem Todestag einen Text, der vielfach nachgedruckt wurde. Er enthielt die gekürzte Fassung eines Satzes, den der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920 – 2013) am 10. Oktober 1991 in der Fernsehsendung „Literarisches Quartett“ bei einer Diskussion über Kants autobiographisches Buch „Abspann“ formuliert hatte: „Er ist ein Spitzbube, er ist vielleicht ein Halunke, ein Hallodri. Aber schreiben kann er, schreiben kann er.“ Das war nicht besonders originell. Bei Bertolt Brecht („Gute Lyrik, aber politisch unmöglich“), bei Anna Seghers oder Arnold Zweig läuft es bis heute in der seit 1990 erweiterten Bundesrepublik ähnlich. Bei der dpa war von Reich-Ranickis Satz nur ein verstümmelter Rest übrig: „Vielleicht ist er ein Halunke, aber schreiben kann er.“ Daraus wurden 2016 Schlagzeilen wie „Ein Halunke‹, der schreiben konnte“ (Schweriner Volkszeitung, Kölner Stadtanzeiger), „Ein schreibender Halunke“ (Frankfurter Neue Presse/Taunus-Zeitung), „Der verehrte Halunke“ (Freie Presse), „Er war ein Halunke, der schreiben konnte“ (Luzerner Zeitung) und ähnliches. Der Journalist Holger Becker konstatierte: „Wer in diesen Tagen bei Google als Suchwort Halunke eingab, bekam als dazu passende Person an allererster Stelle den gerade verstorbenen Kant präsentiert.“
Der Wille, die DDR, die Kultur eines sozialistischen Landes und einen Schriftsteller wie Hermann Kant immer noch einmal zu besiegen, wird bei passendem Anlass übermächtig. Wer eine „kalte Bücherverbrennung“ (Peter Sodann) durchgezogen hat, unterliegt einem gewissen Rechtfertigungsdruck.
Angesichts des Medienexzesses nach Kants Tod machte Holger Becker den Vorschlag, einen „Erinnerungsort für Hermann Kant“ zu schaffen. Staatliche Förderung ist beim Stand der Dinge nicht zu erwarten, privat wäre das Vorhaben nur bei einer größeren Zuwendung zu bewältigen. So entstand die Idee, eine Tagung von Marx-Engels-Stiftung Wuppertal und Rotfuchs-Förderverein zur DDR-Literatur zu veranstalten, die der Frage nachgeht: Was ist geblieben? Diese Tagung findet nun am Sonnabend der nächsten Woche in Leipzig statt. Als Überschrift wurde gewählt: „Leseland ist abgebrannt? Zum Umgang mit der DDR-Literatur nach 1990“. Fast 30 Jahre nach dem DDR-Anschluss soll die Frage erörtert werden, was sich seit den Zeiten nach 1990 verändert hat. Ist der kulturelle Graben zwischen Ost und West breiter geworden? Warum liegen DDR-Kinderbücher in Neuauflagen wieder in den Buchhandlungen, Belletristik aus der DDR aber nicht? Warum versucht die intellektuelle Rechte, sich der DDR-Kultur zu bemächtigen? Auf der Tagung sollen Bausteine für Antworten auf solche Fragen zusammengetragen werden. Die Literaturwissenschaftlerin Sabine Kebir wird über unterschiedliche Rezeption der Werke von Elfriede Brüning (1910 – 2 014) in Ost und West sprechen, der Leiter der Eulenspiegel-Verlagsgruppe und Literaturwissenschaftler Matthias Oehme seine Erfahrungen als Verleger von DDR-Literatur nach 1990 darlegen. Der Literaturwissenschaftler Kai Köhler befasst sich mit der Darstellung von DDR-Literatur in Lexika und Nachschlagewerken seit 1990, der Autor dieses Textes mit der im Bundeskanzleramt koordinierten Kulturpolitik zur DDR. Der Leipziger Schriftsteller Norbert Marohn fasst seine Erfahrungen unter dem Thema „Die Angst vorm andern. Literarische Versuche in vier Jahrzehnten DDR“ zusammen. Nicht nur Buch- und Literaturliebhaber, sondern Interessenten aller Art sind herzlich eingeladen.