Vielleicht haben sich die Demonstranten einfach selbst in die Luft gesprengt. Ungefähr darauf liefen die ersten Äußerungen türkischer Regierungskreise zum Massaker, das am 10. Oktober in Ankara stattgefunden hatte, hinaus: Ministerpräsident Davutoglu erklärte, die Bomben hätten schließlich auch von der kurdischen PKK oder von türkischen ultralinken Gruppen gezündet worden sein können.
Am vergangenen Samstag explodierten die beiden Bomben, während sich eine Demonstration von Gewerkschaften und linken Gruppen sammelte. Nach Angaben der linken und prokurdischen Partei HDP ermordeten die Attentäter mindestens 128 Menschen, rund 500 wurden verletzt. Das Massaker ist der blutige Höhepunkt einer langen Reihe von Angriffen auf die linke und kurdische Bewegung: Die Anschläge, die faschistische türkische Gruppen auf Büros der HDP verübt haben, der Anschlag von Suruc, bei dem ein IS-Selbstmordattentäter 33 linke Jugendliche ermordete, der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, den die türkischen Sicherheitskräfte in den letzten Monaten erneut angeheizt haben. Ob die Attentäter selbst vom IS geschickt waren oder nicht, ist nicht die entscheidende Frage – entscheidend ist, dass der türkische Staat letztendlich die Verantwortung für das Massaker trägt. Die Regierung habe den Anschlag „entweder organisiert oder nicht verhindert“, zitierte DPA einen HDP-Funktionär.
Denn das Erdogan-Regime hatte immer wieder mit dem IS zusammengearbeitet – die kurdische Befreiungsbewegung ist ihr gemeinsamer Gegner. Nachdem die Bomben in Ankara explodiert waren, hinderte die Polizei die Rettungskräfte daran, Schwerverletzte zu versorgen. Ein Augenzeuge berichtet im UZ-Interview, dass sie dabei auch Tränengas einsetzte. Unmittelbar nach dem Attentat erklärte der HDP-Kovorsitzende Demirtas: es handele sich um „einen Angriff des Staates auf das Volk“.
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Von 2002 bis zum Juni diesen Jahres regierte die AKP die Türkei mit einer absoluten Mehrheit im Parlament. Im Aufstieg der AKP und ihres Führers Erdogan drückte sich auch eine veränderte Zusammensetzung des türkischen Kapitals aus: Die wirtschaftliche Entwicklung auch im Osten des Landes hatte eine neue Kapitalfraktion gestärkt, die oft als „anatolische Tiger“ oder „grüne“, also islamisch orientierte, Bourgeoisie bezeichnet werden. Sie erhoben Anspruch auf größeren politischen Einfluss – und während der Filz zwischen den bisher einflussreichsten Kapitalgruppen und dem türkischen Staat auf säkularen Verbindungen aufbaute, setzten die Aufsteiger auf Frömmigkeit. Der Versuch der AKP, die Türkei zu einem islamischen Staat umzubauen, bedeutet auch, die Verbindungen zwischen Staat und Kapital neu zu organisieren und dabei islamisch orientierten Unternehmern den Vorzug zu geben.
In der arbeitenden Bevölkerung sicherte sich das Regime mit paternalistischen Almosen, mit gottgefälliger Wohltätigkeit seine Unterstützung. Auch seine außenpolitischen Machtansprüche formulierte die AKP in Zusammenarbeit mit islamistischen Kräften in der Region – bis hin zur mehr oder weniger direkten Zusammenarbeit mit dem IS.
Die Protestwelle von 2013, die sich in der Verteidigung des Gezi-Parks bündelte, war das erste Zeichen dafür, dass Teile der Bevölkerung bereit sind, diesem Regime Grenzen zu setzen. Aus dem syrischen Krieg ging die kurdische Bewegung gestärkt hervor: mit der Kontrolle Rojavas, also der kurdischen Gebiete in Nordsyrien, und mit dem Prestige aus dem erfolgreichen Kampf gegen den IS – inzwischen erscheinen die Kurden auch den imperialistischen Mächten als möglicher Bündnispartner. Die Proteste in der Türkei und die Stärkung der Kurden drückten sich bei den Parlamentswahlen vom Juni darin aus, dass die HDP die Zehnprozenthürde überwand.
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Die Regierung erklärt nach wie vor, dass die Wahlen am 1. November stattfinden werden. Der Wahlkampf nimmt Züge eines Bürgerkrieges an. Auf die bisherige Weise kann das Erdogan-Regime das Land nicht mehr unter Kontrolle halten. Denn der Rückhalt der AKP bröckelt. Nun versucht sie verzweifelt, ihre Macht zu sichern, indem sie die demagogische Propaganda gegen den „Terrorismus“ der PKK verschärft, Terroranschläge anstiftet und ausnutzt und kurdische Städte in Kriegszustand versetzt.
Kemal Okuyan, Chefredakteur der Zeitung SoL, die der Kommunistischen Partei nahesteht, schätzt ein: Die AKP kann das Land nicht länger regieren, die Wahrscheinlichkeit eines Staatsstreiches wächst.