Um die Mitte des Jahres 1942 konnte die militärische Führung Nazideutschlands die Augen nicht länger verschließen – ihr ursprünglicher Plan, die Sowjetunion in kurzer Frist mit einem Blitzkrieg in die Knie zu zwingen, war gescheitert. Leningrad litt noch unter der grausamen deutschen Blockade, machte aber keine Anstalten zu kapitulieren. An der Einnahme Moskaus war die faschistische Wehrmacht im Dezember 1941 gescheitert. Nun richtete das Oberkommando seine Aufmerksamkeit in Richtung Süden. Im Sommer 1942 war die Planung für den „Fall Blau“ fertiggestellt. Unter diesem Decknamen sollte eine Offensive zur Eroberung der kaukasischen Ölfelder beginnen, denn in Grosny, Majkop und Baku verfügte die Sowjetunion in reichem Maße über den Rohstoff, dessen Mangel für die deutsche Kriegswirtschaft zu einem immer drückenderen Problem geworden war. Des Weiteren hätte Baku als Ausgangspunkt dienen können, um iranische, irakische, afghanische und indische Territorien perspektivisch ins Visier zu nehmen. Das hätte die britischen Positionen unter Druck gesetzt.
Anstatt die Kräfte der Heeresgruppe Süd nun kompakt gen Süden zu richten, entschied sich die Wehrmachtsführung für eine Aufteilung. Neben dem Kaukasus sollte gleichzeitig Stalingrad unter Kontrolle gebracht werden. Die Lage an der Wolga machte die Stadt zu einem wichtigen Transportknotenpunkt. Die Aufgabe, Stalingrad zu erobern, wurde der 6. Armee unter Generaloberst Friedrich Paulus übertragen. Unterstützt wurde er dabei durch die 4. Panzerarmee unter dem Befehl von Generaloberst Hermann Hoth. Hinzu kamen italienische, rumänische, ungarische und kroatische Hilfsverbände. Allerdings schien die Planung auf deutscher Seite schon früh Zweifel an den Erfolgsaussichten zu wecken. Am 29. Juli 1942 hatte Paulus gegenüber Adolf Hitlers Chefadjutanten Generalmajor Rudolf Schmundt geäußert: „Die Armee ist für den Angriff auf Stalingrad zu schwach.“ Gleichwohl blieb es bei der Teilung der Kräfte an der südlichen Front. Im Verlauf der Schlacht bei Kalatsch im Donbogen vom 25. Juli bis zum 11. August konnten die Deutschen einen Brückenkopf über den Don bilden. Trotz ihrer Niederlage erkämpften die Rotarmisten durch zähen Widerstand einen Zeitgewinn, der für weitere Verteidigungsvorbereitungen in Stalingrad genutzt werden konnte.
Angriff auf Stalingrad
Die Schlacht von Stalingrad begann am 23. August 1942 mit schweren deutschen Luftangriffen. Eine Million Bomben gingen auf die Stadt nieder und töteten 40.000 Zivilisten. Ungefähr zeitgleich erreichten deutsche Panzer den Stadtrand. Über Stalingrad wurde der Belagerungszustand verhängt. Verantwortlich für die Verteidigung der Stadt war Generaloberst Andrej Jerjomenko, unterstützt von Nikita Chruschtschow als politischem Kommissar. Am 13. September griffen Sturzkampfbomber und Artillerie den inneren Kreis der Stadt an. Der Druck von deutscher Seite wuchs. Dennoch warnte Infanteriegeneral Gustav Anton von Wietersheim davor, die Offensive fortzusetzen. Stattdessen empfahl er, Stalingrad aufzugeben, da er einen letztlichen Sieg in dieser Stadt nicht für möglich hielt. Dieser Anflug von Realismus hatte aber lediglich zur Folge, dass von Wietersheim von seinem Posten abberufen wurde.
Auf der Gegenseite steigerte sich der sowjetische Widerstand. Nicht nur reguläre Rotarmisten kämpften, sondern auch Arbeiter, die man mobilisiert und bewaffnet hatte. Besonders hart wurden das Stahlwerk „Roter Oktober“, die Geschützfabrik „Barrikaden“ und das Traktorenwerk „Felix Dserschinski“ verteidigt. Kämpfer, die sich durch ihren Einsatz besonders hervortaten, wurden landesweit bekannt. Zu nennen wäre hier besonders der Scharfschütze Wassili Saizew, der mit seinem Präzisionsgewehr 252 deutsche Soldaten tötete. Er wusste, was in Stalingrad auf dem Spiel stand: „Es gibt kein Land für uns hinter der Wolga!“ In den Ruinen der Stalingrader Chemiefabrik „Lazur“ leitete er eine improvisierte Scharfschützenschule. Nach dem Ende der Schlacht erhielt er den Orden „Held der Sowjetunion“. Ebenfalls bekannt wurde der Panzerbüchsenschütze Michail Panikacha, der sich brennend mit einem Molotowcocktail in der Hand auf einen deutschen Panzer stürzte und diesen so sterbend außer Gefecht setzte.
Dennoch schien es zunächst, als sollte der Skeptiker von Wietersheim Unrecht behalten. Am 12. November kontrollierten die Deutschen fast die gesamte Stadt bis auf ein kleines Restgebiet im Norden. Bereits vier Tage zuvor erging sich Hitler bei seiner Rede im Münchener Löwenbräukeller in voreiliger Siegesfreude.
Gegenoffensive
Der 19. November 1942 markierte den Wendepunkt des Schlachtverlaufs. Es war der Beginn der „Operation Uranus“: Unter diesem Namen holte die Rote Armee zum Gegenschlag aus. Westlich, südwestlich und südöstlich von Stalingrad gelang es sowjetischen Verbänden, die Linien der 3. und 4. rumänischen Armee zu durchstoßen und zur Bildung eines Rings um die Stadt anzusetzen. Schlechtes Wetter behinderte die deutsche Luftwaffe massiv beim Einsatz. Die sowjetische Luftwaffe bewies ihrerseits, dass sie erfolgreich an der Aufholung ihrer Rückstände gearbeitet hatte.
Auf deutscher Seite kamen gänzlich unerwartete Widrigkeiten hinzu. So fiel das 48. Panzerkorps teilweise aus, nachdem es seine Panzer in Ställen und Scheunen untergebracht hatte und die dort reichlich vorhandenen Mäuse über die Kabel und Leitungen der Fahrzeuge hergefallen waren. Am 23. November war der erste große Teilerfolg der Roten Armee errungen. Die 6. Armee befand sich in vollständiger Einschließung. Am 12. Dezember startete Generaloberst Hoth unter dem Namen „Unternehmen Wintergewitter“ einen Entsatzversuch, der aber elf Tage später erfolglos abgebrochen werden musste.
Nachdem die Rote Armee im Zuge der „Operation Saturn“ die 8. Armee der Italiener zerschlagen hatte, fehlten die Reserven, um den Belagerungsring aufbrechen zu können. Gleichermaßen zum Debakel geriet das von Reichsmarschall Hermann Göring vollmundig verkündete Vorhaben, die 6. Armee durch eine Luftbrücke zu versorgen. Nur ein geringer Teil der zugesagten Versorgungsgüter kam bei den Eingeschlossenen an – erst recht, nachdem wichtige Flugplätze von der Roten Armee eingenommen werden konnten. Auch das Ausfliegen von Verwundeten aus dem Kessel war kaum noch möglich. Von Panik ergriffene deutsche Soldaten klammerten sich an die Fahrgestelle der überfüllten startenden Maschinen und stürzten kurz darauf in den Tod. Von deutscher Siegesgewissheit und Herrenmenschen-Arroganz war nur noch Todesangst und Verzweiflung übrig.
Massensterben im Kessel
Kälte, Krankheit und Hunger dezimierten die deutschen Reihen kaum weniger als das Feuer der Rotarmisten. Die Lebensmittelration pro Person wurde bis auf zwei Scheiben Brot täglich herabgesetzt. Deutsche Kommunisten wie Walter Ulbricht, Willi Bredel und Erich Weinert waren in Stalingrad auf sowjetischer Seite aktiv, um die deutschen Soldaten zur Kapitulation zu bewegen. Über Lautsprecher wurden Kulturbeiträge und politische Aufklärung in Richtung der Wehrmachtsstellungen verbreitet. Es gab die Hoffnung, bei den Deutschen die Einsicht zu wecken, dass ein weiteres Ausharren selbstmörderischer Wahnsinn sei. Es wurde an die patriotische Pflicht der Soldaten appelliert, mit dem Faschismus zu brechen und ihm entgegenzutreten. Dass der Erfolg ausblieb, lag nicht zuletzt daran, dass viele Wehrmachtssoldaten der Nazipropaganda glaubten, im Falle einer Gefangennahme dem angeblichen Blutdurst und Sadismus „slawischer Untermenschen“ ausgeliefert zu sein – eine bemerkenswerte Projektion der selbst begangenen Verbrechen auf die gegnerische Seite.
Am 10. Januar 1943 begann mit der sowjetischen „Operation Kolzo“ (russisch: „Ring“) das finale Kapitel der Schlacht. Hitler hatte Paulus’ Erwägungen eines Ausbruchsversuchs immer wieder scharf zurückgewiesen. Nun war der Punkt gekommen, wo auch dies nicht mehr zu realisieren war. Sowjetische Kapitulationsaufforderungen wurden in den Wind geschlagen, obwohl man ausdrücklich die korrekte Behandlung der Gefangenen inklusive medizinischer Versorgung garantierte.
Am 25. Januar spaltete die Rote Armee die eingekreisten deutschen Truppen in einen Nord- und einen Südkessel auf, am 28. Januar wurde der Nordkessel seinerseits noch einmal halbiert. Zwei Tage später erlebte Paulus die fragwürdige Ehre, von Hitler zum Generalfeldmarschall ernannt zu werden – bei näherem Hinsehen eine verklausulierte Aufforderung zum Selbstmord, denn noch nie war ein deutscher Generalfeldmarschall in Gefangenschaft gegangen. Am 31. Januar gab es die erste deutsche Teilkapitulation, am 2. Februar ergaben sich die letzten Reste der 6. Armee. Paulus verzichtete darauf, der indirekten Empfehlung seines „Führers“ zu folgen und trat mit seinen noch lebenden Soldaten den Weg in die Gefangenschaft an.
Kriegswende
Dass es sich bei der Niederlage in Stalingrad nicht um einen Fehlschlag handelte, der sich wieder kompensieren ließ, sondern um den grundsätzlichen Wendepunkt, wurde im Sommer des Jahres 1943 deutlich. Mit der Panzerschlacht bei Kursk scheiterte die letzte große deutsche Offensivoperation an der Ostfront. Der deutsche Panzergeneral Heinz Guderian stellte rückblickend fest: „Die Initiative war voll und ganz an den Gegner übergegangen.“ Und General Friedrich Wilhelm von Mellenthin fand hierzu die pathetischen Worte, „die Blüte des deutschen Heeres“ sei „entscheidend und endgültig dahingewelkt“.
Guderians nüchterne Feststellung und von Mellenthins befremdlich-blumige Metapher sind bemerkenswert im Hinblick auf Versuche, die Frage nach dem Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs neu zu beantworten in dem Sinne, dass dieser in der Landung britischer und US-amerikanischer Truppen am 6. Juni 1944 in der Normandie zu sehen sei. Es ist zu erwarten, dass diese Interpretation im Zeichen antirussischer Stimmung, die nun wieder Konjunktur hat, zunehmend Anhänger gewinnen wird. Überzeugender wird sie dadurch nicht. Lässt man tagespolitische Bedürfnisse und Befindlichkeiten beiseite und konzentriert sich auf die militärgeschichtlichen Fakten, so ist das Ergebnis eindeutig. Die beiden zitierten Wehrmachtsoffiziere bestätigen den irreparablen Schaden, den die deutsche Kriegsmaschinerie an der Ostfront deutlich vor dem „D-Day“ genommen hatte. Dem Mut und der Opferbereitschaft der US-amerikanischen und britischen Soldaten, die in der Normandie an Land gingen, ist Ehre zu erweisen. Eine andere Frage ist die realistische Einschätzung des Kriegsverlaufs: Am 6. Juni 1944 war die Rote Armee auf dem Weg nach Berlin und es ist nicht abwegig anzunehmen, dass man nun in London und Washington allen Grund zur Eile sah, um einen günstigen Platz bei der Neuordnung Europas einnehmen zu können.
Wenn die Schlacht von Moskau das „Stopp-Signal“ an die Wehrmacht war, so war Stalingrad die bislang nicht für möglich gehaltene Niederlage des Hitlerfaschismus. Kursk lieferte die Bestätigung, dass es sich hierbei wirklich um den definitiven Wendepunkt handelte und nicht nur um eine kurzfristige Schwankung in der Verteilung des Kriegsglücks.
Tatsachen und Propaganda
Betrachtet man die westliche Rezeption der Schlacht von Stalingrad, so fällt einem eine rassistische Kontinuität auf, in der sich das Propagandabild der Nazis vom „slawischen Untermenschen“ konserviert. Am 29. Oktober 1942 sah sich die SS-Zeitung „Das Schwarze Korps“ genötigt, die Kampfesleistung der Rotarmisten anzuerkennen: „Die Bolschewisten greifen an bis zur totalen Erschöpfung, und sie verteidigen sich bis zur physischen Vernichtung des letzten Mannes und der letzten Waffe. (…) Der einzelne Mann kämpft mitunter auch dann noch, wenn er nach Menschenermessen nicht mehr kämpfen kann.“ Bemerkenswert ist aber die Begründung, die das „Schwarze Korps“ für diesen Kampfeswillen liefert: Die Rotarmisten repräsentierten ein „niederes, dumpfes Menschentum“, das nicht in der Lage sei, „den Sinn des Lebens zu erkennen und das Leben zu schätzen“. Dem „Untermenschen“ ist eben nichts heilig – noch nicht einmal das eigene Leben.
Im US-amerikanischen Kinofilm „Duell – Enemy at the Gates“ von 2001 ist zu sehen, wie in Stalingrad kaum bewaffnete Sowjetsoldaten nach vorne gegen die deutschen Stellungen gejagt werden. Als der Angriff nicht weiter vorankommt, eröffnen hinter der Kampflinie liegende NKWD-Einheiten das Feuer auf die eigenen Soldaten – und wieder zeigt sich die Fratze des „Barbarentums“.
Der Historiker Jochen Hellbeck hat in seiner verdienstvollen Arbeit „Die Stalingrad-Protokolle“ zahlreiche Interviews mit sowjetischen Teilnehmern der Schlacht ausgewertet. Dabei stellt er einen bemerkenswert hohen Identifikationsgrad der Soldaten mit ihrer Heimat und Staatsordnung fest. Die Darstellungsweise in „Enemy at the Gates“ bewertet er vor diesem Hintergrund als „wirklichkeitsfern“. Er liefert damit ein Beispiel für die Sachlichkeit, um die in der heutigen Geschichtsschreibung mehr denn je gerungen werden muss.