Der Start des 9-Euro-Tickets zeigt die Mängel bei der Bahn auf

Nicht durchdacht

Zum Start des 9-Euro-Tickets am 1. Juni waren bereits über sieben Millionen Tickets verkauft worden. Zum Pfingstwochenende sind noch einige dazugekommen. Es kam, wie es kommen musste: Überfüllte Züge – die zum Teil geräumt werden mussten, Zugverspätungen aufgrund von Verzögerungen durch den Massenandrang, Menschen, die auf den Bahnhöfen nicht mehr in die Züge kamen und genervte Abo-Kunden. Die Kommentare in den Interviews sind überall gleich: „Es war klar, dass es in der kurzen Vorbereitungszeit nicht funktionieren kann – es war nicht durchdacht!“ Die Befürchtungen von Verbänden im Vorwege scheinen sich auch zu bestätigen: Die Zustände wirken abschreckend auf das System Bahn und Abo-Kunden überlegen, die nächsten Monate aufs Auto umzusteigen.

Der Massenandrang trifft auf einen seit 1994 liberalisierten Schienenverkehr, auf dem neben dem Regionalverkehr der Deutschen Bahn inzwischen zahlreiche regionale Kleinbahnen unterwegs sind. Das größte Unternehmen mit einem bundesweiten Angebot ist aber die DB-Tochter DB Regio. Diese beförderte vor der Pandemie etwa 5,5 Millionen Fahrgäste am Tag und war damit bereits an die Kapazitätsgrenze gekommen. Zwar reduzierte sich die Zahl der Reisenden durch die Pandemie um circa 2 Millionen, durch die Zahlen wird aber dennoch deutlich, dass der Schienenregionalverkehr nicht mal eben ein paar Millionen Menschen zusätzlich auffangen kann. Zudem treffen die drei Monate genau die Urlaubszeit, somit wird die Belastung auf den Regionalbahnen liegen und die Zeit für die Reisenden zur Tortur werden.

Hier rächen sich die Versäumnisse der Vergangenheit. Öffentliche Verkehrsangebote sind seit Jahrzehnten nicht ausreichend finanziert und ausgebaut worden. In die Schieneninfrastruktur ist zu wenig investiert worden und die Unternehmen kaufen nur das Nötigste an Fahrzeugen ein. Der „Wettbewerb“ auf der Schiene und die Vergabepraxis durch Ausschreibungen führte zu knappen Kalkulationen, so dass die Unternehmen die von den Ländern bestellten Verkehrsleistungen gerade erbringen können, aber eben nicht viel mehr. Reservezüge sind die Ausnahme. Die Ankündigung der Bahntochter DB-Regio in der Pressemeldung zum 9-Euro-Ticket: „Wir setzen alles in Bewegung, was wir haben“, und dann bundesweit 50 Züge zusätzlich für rund 250 Fahrten täglich einzusetzen, macht das Dilemma deutlich. Das ist ein Plus von 1,1 Prozent des Angebotes, bezogen auf 22.000 tägliche Zugfahrten, bei einer möglichen Verdoppelung der Nachfrage.

Ein zusätzliches Problem ist auch die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur (Schienen und Bahnhöfe). Zwar hat es in den letzten Jahren bei der Infrastruktur ein Umdenken des Bundes gegeben und es wurde mehr Geld investiert, dennoch besteht zum Beispiel dort ein Investitionsstau von rund 60 Milliarden Euro. Beim Personal ist ebenfalls seit Jahrzehnten gespart worden. Zwar hat die Deutsche Bahn in den letzten Jahren verstärkt Personal eingestellt und auch ausgebildet, aber das reicht längst nicht aus. Derzeit wird daher versucht, alles an Hilfskräften für diese Zeit einzustellen und Beschäftigte aus den Verwaltungen abzuziehen, was für einen Service am Bahnhof und vor allem für die Sicherheit nötig ist.

Der Ansturm auf den Schienenverkehr zeigt aber auch deutlich, dass eine Verlagerung von der Straße auf die Schiene bei einer entsprechenden Preisgestaltung möglich ist. Damit könnte ein deutlicher Beitrag für den Klimaschutz geleistet werden. Erforderlich ist dafür aber eine Abkehr von dem Dogma, dass der Markt alles regelt. Öffentlicher Personenverkehr ist Daseinsvorsorge und muss entsprechend finanziert werden. Um eine Verkehrswende zu erreichen, muss der Öffentliche Personenverkehr flächendeckend ausgebaut werden. Die unüberlegte Aktion der Bundesregierung mit dem zeitlich befristeten 9-Euro-Ticket wird als teurer Schnellschuss verpuffen. Die dadurch geplante Entlastung für die Haushalte aufgrund der Energiepreissteigerungen endet zudem nicht nach drei Monaten. Die Probleme gehen im Herbst erst richtig los.

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"Nicht durchdacht", UZ vom 10. Juni 2022



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