Wie die Faschisten kurz vor der Befreiung die ermordeten, die ein neues Deutschland hätten aufbauen können

„Nicht den gleichen Fehler machen wie 1918“

Von Ulrich Sander

In den Monaten vor Kriegsende verschärften die Nazis noch einmal den Kurs ihrer historisch einmaligen Massenverbrechen. Zehntausende Häftlinge wurden auf „Todesmärschen“ und bei Massakern ermordet. Im Januar 1945 wiesen Gestapoleitstellen auf Anweisung des obersten Chefs Heinrich Müller die Gestapokommandos an, „umstürzlerischer“ Betätigung“ deutscher Kommunisten und anderer Linker sowie ausländischer Arbeiter durch Massenerschießungen vorzubeugen. „Die Betreffenden sind zu vernichten.“ Auf Grund dieses Befehls wurden kurz vor Kriegsende Tausende umgebracht.

Tausende Soldaten, die sich weigerten, weiter mitzumachen wurden als Deserteure erschossen. Die Gesamtzahl der Opfer der Kriegsendphase – einschließlich derer der Todesmärsche – wird auf 700 000 geschätzt.

Linke erschießen, SS-Leute einbinden

Diese Morde wie auch die Massaker in den Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen von den KZ nach Westen entsprachen dem Nachkriegs- und Überlebenskonzept des deutschen Faschismus. Gestapo-Chef Heinrich Müller erklärte der Frau von Graf Moltke: „Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918 begangen wurde. Wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben lassen.“ Nazigauleiter August Eigruber begründete einen Befehl, Häftlinge im KZ Mauthausen zu ermorden, mit den Worten: Die Alliierten dürften „keine aufbauwilligen Kräfte“ vorfinden. Zugleich ging es darum, Zeugen der Naziverbrechen zu beseitigen.

Anders als die Vertreter der Linken wurden die Wirtschaftsführer von der SS geschont und geschützt. Mit ihnen diskutierte man sogar ein Thema, das anzuschneiden für alle übrigen Deutschen den Kopf kostete: Wie soll es weitergehen nach dem verlorenen Krieg?

An der Beantwortung dieser Frage arbeiteten bereits seit der Wende im Krieg gegen die Sowjetunion Experten der Wirtschaftspolitik. Wilhelm Zangen, Chef von Mannesmann und der „Reichsgruppe Industrie“, erörterte diese Frage mit SS-Brigadeführer Otto Ohlendorf, der sowohl Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium als auch Chef des Sicherheitsdienstes Inland der SS war. Es ging um den Fortbestand des Kapitalismus und um die Wiedererlangung der Vormacht Deutschlands in Europa. Die „Reichsgruppe Industrie“ hatte ein „Institut für Industrieforschung“ geschaffen, dem der spätere westdeutsche Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard vorstand. In Erhards Denkschriften ging es um die „Aufrechterhaltung der sozialwirtschaftlichen Ordnung“.

Den Kapitalismus erhalten

Gegen deutsche und ausländische Aktive der Arbeiterbewegung handelten Wirtschaft und Nazis gemeinsam. Dissens gab es in der Frage, ob die ökonomischen Werte dem Feind in die Hände fallen sollten. Industrielle, die Mitglieder des Freundeskreises der SS waren, erreichten, dass Hitler seinen am 19. März 1945 erlassenen „Nero“-Befehl zur Zerstörung aller Industriebetriebe, Vorräte und Verkehrswege zurücknahm. Nichts von Wert sollte dem Feind in die Hände fallen. Jedoch: Industrielle wirkten über den Rüstungsminister Albert Speer auf Hitler ein, der einen neuen Führerbefehl erließ. Während die Massenexekutionen an den Arbeiterfunktionären noch anhielten, erreichten Generalfeldmarschall Walter Model am 5. April 1945 Anweisungen über die „Aufrechterhaltung der Industrie“ an der Ruhr.

Konservative Politiker und Manager, die keine systemverändernden Aktivitäten erwarten ließen, wurden hingegen geschont. Schon am 10. August 1944, gleichzeitig mit den Massenverhaftungen im Rahmen der Aktion „Gitter“ und den Massenhinrichtungen im Gefolge des 20. Juli 1944, fand laut US-Geheimdienstberichten im Straßburger Hotel Maison ein Geheimtreffen von Vertretern der SS und großer Konzerne statt. Repräsentanten des „Freundeskreises SS“ aus Firmen wie Krupp, IG Farben, Messerschmidt, Siemens, Daimler Benz, AEG, Flick AG, Dr. Oetker, Wintershall/Quandt und Bosch schufen einen Fonds, der das Überleben der deutschen multinationalen Unternehmen wie auch vieler SS-Führer sichern sollte. Gestapo-Müller beispielsweise wurde aufgrund dieser Verabredung im Ausland versteckt – und nie gefasst. Und nicht nur die genannten Unternehmen, auch das von ihnen repräsentierte Wirtschaftssystem überlebte.

Otto Ohlendorf wurde dann noch Wirtschaftsminister in der sogenannten Dönitz-Regierung in Flensburg. In dieser Eigenschaft beriet er sich noch zehn Tage nach Kriegsende mit Vertretern des westalliierten obersten Hauptquartiers, um eine „explosive Entwicklung“ zu verhindern. Vor allem diente die Dönitz-Regierung dem Ziel, die Westalliierten und die Wehrmacht zusammenzufassen, um so gegen die Sowjetunion vorzugehen. Ein Konzept, das dann erst mit der Gründung der NATO Gestalt annahm. 1951 wurde Ohlendorf hingerichtet – er hatte neben seinen vielen Nazifunktionen auch die des Kommandeurs einer SS-Einsatzgruppe inne, die im Osten 90 000 jüdische Menschen ermordete. Als er hingerichtet werden sollte, protestierte die Bundesregierung bei den Amerikanern erfolglos dagegen. Sie wollte den Partner Erhards retten. Doch Ohlendorf machte einen Fehler: Er hielt sich nicht an das geheime Agreement, die Wehrmacht zu schützen, sondern er sagte aus, neben der SS habe die Wehrmacht am Holocaust mitgewirkt. Als Ohlendorf starb, war sein Berater Erhard schon dabei, „Vater des Wirtschaftswunders“ zu werden.

Terror gegen Umsturz – Das Beispiel Dortmund

Die „Kriegsendphasenverbrechen“ sind besonders in Dortmund gründlich erforscht worden. Anfang Januar 1945 erhielt auch die Dortmunder Gestapo den Befehl des Reichssicherheitshauptamtes, der zum Massenmord an politischen Gegnern der Nazis und an Zwangsarbeitern führte. Am 9. Februar 1945 begannen die Massenverhaftungen. Im März und April 1945 wurden in der Dortmunder Bittermark und im Rombergpark bis kurz vor dem Einmarsch der Amerikanern am 12. April dann mindestens 289 Antifaschisten von der Gestapo ermordet.

Angefangenen hatte die Aktion am 24. Januar 1945 um 22.05 Uhr. Da spuckte der Ticker der Geheimen Staatspolizei in der Benninghofer Straße in Hörde die folgenschwere Nachricht aus. SS-Standartenführer Dr. Walther Albath, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, funkte aus Düsseldorf: „Die gegenwärtige Gesamtlage wird Elemente unter den ausländischen Arbeitern und auch ehemalige deutsche Kommunisten veranlassen, sich umstürzlerisch zu betätigen.“ Und weiter: „Es ist in allen sich zeigenden Fällen sofort zuzuschlagen. Die Betreffenden sind zu vernichten, ohne im formellen Weg vorher beim RSHA Sonderbehandlung zu beantragen.“

Das war der Freibrief zum Mord. Die knappen Zeilen enthielten alles, was die Gestapo für die nun folgenden Gewalttaten brauchte: Die Warnung vor einem kommunistischen Umsturz und die Vollmacht, ohne einen Antrag in Berlin oder bei einem Gericht Menschen umbringen zu können. Die Namen der Opfer, soweit es nicht „auffällige“ Ausländer waren, hatte die Gestapo in ihren Karteien und Akten gesammelt: Widerstandskämpfer, die in der Zeit seit 1933 bereits einmal inhaftiert waren und von denen ein antifaschistisches und antikapitalistisches Nachkriegsengagement zu erwarten war, und in Berichten von Spitzeln benannte Personen.

Der Dortmunder Polizeihistoriker Alexander Primavesi berichtete darüber in den „Ruhrnachrichten“ vom 31. März 1994: „Hochmotiviert durch das Schreiben aus Düsseldorf brachten die Gestapo-Beamten in den Wochen vor Ostern immer mehr Menschen in die Zellen der Steinwache und des Gestapo-Kellers in der Benninghofer Straße. Zwangsarbeiter aus dem gesamten Bereich des Regierungsbezirkes Arnsberg – Holländer, Belgier, Franzosen, Polen, Jugoslawen und Russen – verschleppten die Gestapo-Beamten in ein Lager im Bereich der Hütten-Union in Dortmund-Hörde. Von jeder Verantwortung gegenüber einer höheren Stelle entbunden, folterten die Beamten hemmungslos, um weitere ‚umstürzlerische Elemente‘ aufzuspüren.“

Am 7. März begann dann die Aktion Rombergpark. Gegen Morgen erschienen die Gestapo-Leute mit Namenslisten in den Kellern. Jeweils rund 20 Gefangene wurden aufgerufen und auf Lastwagen gezerrt, die zum Rombergpark oder zur Bittermark rollten. Zwei oder drei Beamte mit Hunden kamen mit, um sicherzustellen, dass niemand bei den Erschießungen zusah. Auf einem Acker, einer Wiese oder an einem Bombentrichter wurden die Gefangenen dann durch Genickschuss ermordet.

Gezieltes Morden

Nicht nur aus dem Gestapo-Gefängnis wurden die Unglücklichen abgeholt. Die Stahlindustriellen im Ruhrgebiet hatten eigene „Auffanglager“ geschaffen, um sich entlaufene und wieder eingefangene Arbeitssklaven vornehmlich für die Trümmerbeseitigung zu sichern. Erst nach dem Jahr 2010 entdeckten Dortmunder VVN-Leute das „Auffanglager“ des Kriegsverbrechers Albert Vögler am Emschertor des ehemaligen Dortmund-Hörder-Hüttenvereins. Es bot sich ein grausiges Bild eines fenster- und fast luftlosen Kellers von 180 Quadratmetern Größe für 70 Personen, vornehmlich Russen. Werkseigene Aufseher hatten die Gefangenen gequält, und vierzehn Tage vor Eintreffen der Amerikaner der Gestapo hatten sie die letzte Belegung von mindestens 70 Gefangenen zur Exekution der Gestapo übergeben.

Noch am 12. April 1945, als die Amerikaner schon in Dorstfeld standen, erschoss die Gestapo Widerstandskämpfer auf den Bahngleisen in der Nähe des evangelischen Friedhofes in Hörde. Rund 300 Menschen, die genaue Zahl wurde nie bekannt, kamen in den Tagen um Ostern auf diese Weise ums Leben. Unter ihnen, so berichtet Primavesi, war auch der Gestapo-Beamte Weiler. Er hatte 20 polnischen Widerstandskämpfern das Leben gerettet und die Dortmunder KPD regelmäßig mit Informationen versorgt.

Einen Hinweis auf das Motiv des nur scheinbar sinnlosen Mordens fand Primavesi in der Aussage eines Gestapobeamten vor dem Entnazifizierungsausschuss im November 1946. Dieser erinnerte sich, wie NSDAP-Gauleiter Albert Hoffmann eines Tages den Gestapo-Keller besuchte. Beim Anblick von zwei Gefangenen, denen man die Misshandlungen deutlich ansah, höhnte er: „Ach, Sie wollen Deutschland retten? Da sind wir euch aber ein bisschen zuvorgekommen.“

Primavesi: „Es war der wahnwitzige Vorsatz, niemanden aus den Reihen der politischen Gegner am Leben zu lassen, damit sie nach dem Zusammenbruch nicht führende Positionen besetzen konnten, der die Gestapo zu dieser letzten Abrechnung bewegte. Bereits Tage vor den Erschießungen verteilten die Gestapo-Beamten die Wertsachen der Opfer unter sich, danach betranken sie sich bis zum Umfallen.“

Von dem etwa 150-köpfigen Exekutionskommando der Gestapo, das nach Ostern 1945 über Hemer und Iserlohn in alle Welt flüchtete, kamen 1951 und 1952 27 Mörder in Dortmund vor Gericht. 15 Angeklagte wurden freigesprochen. Niemand wurde wegen Mordes verurteilt, sondern allenfalls wegen Beihilfe zur Tötung. Die zwölf verurteilten Gestapo-Leute erhielten zwischen zwei und sechs Jahren Gefängnis. Die höchste Strafe von zehn Jahren erhielt ein ehemaliger KPD-Mann und KZ-Häftling, der als Spitzel einige Dortmunder Kameraden aufgespürt und verraten, jedoch nicht mitgeschossen haben soll. Es galt schon damals: Wer ursprünglich mal von links kam oder links eingestellt war, der wurde härter angefasst als die Rechten.

„Verbrannte Erde“ an der Ruhr?

Alexander Primavesi hat aus den Dortmunder Gestapo-Akten noch weitere Mordfälle jener Zeit herausgelesen. Der Dortmunder Polizeipräsident Altner hatte ab März Plakate aushängen lassen: „Wer plündert, wird erschossen.“ Wer ein paar Kartoffeln oder ein Paar Schuhe aus einem zerbombten Haus mitgehen ließ, war todgeweiht, wenn ihn die Polizei erwischte. Exekutionsort war der Sportplatz der Polizei an der Hohen Straße, wo heute das Polizeipräsidium steht, An einer Wand mit einem dahinter liegenden Graben wurden nach Aussagen von Zeugen 100 Zwangsarbeiter und Deutsche auf Anordnung des Polizeipräsidenten erschossen. Nach Einrücken der Amerikaner nahm sich der Polizeipräsident das Leben.

Über Gauleiter Albert Hoffmann wurde nach dem Krieg bekannt, er habe den Nero-Befehl Hitlers zur „Verbrannten Erde“ auch in Deutschland bedingungslos ausführen wollen. Das Industriegebiet, so die Weisung aus dem Führerbunker in Berlin, sei dem Feind nur zerstört zu hinterlassen. Gauleiter Hoffmann entschied sich, das Problem „Zwangsarbeiter“ zusammen mit dem Befehl „Verbrannte Erde“ zu lösen. Am 26. März 1945 befahl er, 23000 ausländische Zwangsarbeiter und 7 000 Kriegsgefangene im Bereich der Polizeibehörde Dortmund in verschiedene Zechen zu bringen und die Stollen zu fluten. Mehrere Polizeibeamte und der Direktor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, Haake, hielten sich später zugute, den Befehl des Gauleiters nicht ausgeführt zu haben.

Polizei aus Nazi-Mördern

Von einem Nachkriegsgericht dennoch freigesprochen wurde Gauleiter Albert Hoffmann und nicht vor dem Gericht in Dortmund stand SS-Führer Dr. Walther Albath. Albath starb 1989 im gesegneten Alter von 85 Jahren. Die Gestapobeamten waren vielfach nach 1945 wieder in ihre Funktionen als Kriminalbeamte zurückgekehrt. Primavesi schreibt: „Laut Anweisung der Militärbehörden wurden alle Gestapobeamten als Mitglieder einer ‚verbrecherischen Organisation‘ grundsätzlich für 18 Monate inhaftiert. Die Dauer war von den Alliierten mit Bedacht gewählt: Ab einer Haftzeit von zwei Jahren hätten die Beamten später nicht wieder eingestellt werden können und alle Pensionsansprüche verloren.“ Als dann der Rombergparkprozess vorbereitet wurde, kam es zu grotesken Situationen: Einige Polizeibeamte, die die Vernehmungen durchführten, hatten genauso viele Straftaten begangen wie die von ihnen vernommenen Angeklagten. Entsprechend dünn waren die Ergebnisse der Verhöre.

Sonja Zekri fällt in den „Ruhrnachrichten“ vom 1. April 1994 ein vernichtendes Urteil über die „Entnazifizierung“: „Die Zeit arbeitete für die Gestapo, Mit der neuen Kluft zwischen West und Ost verloren die englischen Alliierten spürbar das Interesse an einer Aburteilung. Schließlich sollten die Beamten den neuen deutschen Staat, der als Puffer gegen den Kommunismus funktionierte, stabilisieren. Ein erheblicher Teil der Gestapo-Beamten wurde später wieder bei der Dortmunder Polizei eingestellt.“

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"„Nicht den gleichen Fehler machen wie 1918“", UZ vom 3. Mai 2019



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