Warum moralisierender Antifaschismus rechten Bewegungen nützt

Nicht an falschen Fronten verkämpfen

Richard Höhmann

Schon 2016 warnte der Parteienforscher Wolfgang Merkel auf Zeit Online: „Die junge, intellektuelle Linke hat den Bezug zu der Unterklasse im eigenen Land fast gänzlich verloren.“ Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lasse, der Wesenskern linker Politik, sei heute so gut wie völlig in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominierten kulturelle und identitätspolitische Themen.

Das erschwert die Doppelaufgabe antifaschistischen Handelns, auf die Hans-Jürgen Urban von der IG Metall zu Recht hinweist: „So wichtig die klare Kante gegen die Ideologen, Organisatoren und Galionsfiguren der rechten Bewegungen ist: Genauso wichtig ist ein Angebot an diejenigen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, die täglich vom sozialen Abstieg bedroht sind und die ihre Lebensbiografie entwertet und verraten sehen.“

Wir dürfen nicht bei Erscheinungsformen stehen bleiben, sondern müssen strukturelle Momente genauer erkunden. Das gilt insbesondere für neue Erscheinungen wie die Corona-Demos.

Der Forschungsschwerpunkt Rechts­extremismus/Neonazismus (FORENA) der Universität Düsseldorf charakterisiert die Anti-Corona-Proteste als „soziale Bewegung“. Parteipolitisch habe die extreme Rechte in Nordrhein-Westfalen bislang nicht von den sogenannten Corona-Demos profitieren können: Weder der AfD noch rechten Splitterparteien sei es bisher gelungen, sich an die Spitze solcher Proteste zu setzen. Auch die eigene Anhängerschaft konnten sie durch ihre Protestteilnahme nicht vergrößern.

Bei den Kommunalwahlen in NRW im September 2020 verlor die AfD im Vergleich zu überregionalen Wahlen deutlich an Stimmen. Dieser Trend galt auch für alle rechten Kleinstparteien: Die NPD etwa verlor ihre acht Kommunalmandate.

Einblicke liefert auch eine Studie der Universität Basel im süddeutschen und Schweizer Raum, die in den Marxistischen Blättern 2/2021 abgedruckt ist:

Das Durchschnittsalter der Befragten betrage 47 Jahre, ein Drittel habe Abitur und einen Studienabschluss. Jeder vierte sei selbstständig beschäftigt – ein deutlich höherer Anteil als in der Gesamtbevölkerung. Bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland hätten 18 Prozent die Linke und 23 Prozent die Grünen gewählt. Eine ausgesprochen fremden- oder islamfeindliche Haltung sei nicht festzustellen.

Der Nationalsozialismus werde seltener verharmlost als in der Gesamtbevölkerung. Es fänden sich kaum sozialdarwinistische Haltungen und eine große Mehrheit will es Menschen aus anderen Ländern erlauben, ins Land zu kommen und dauerhaft hier zu leben. Mehr als 70 Prozent seien gegen eine Privatisierung der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen, nur ein gutes Viertel gegen eine Umverteilung der Einkommen von oben nach unten. Die Befragten vertrauten der parlamentarischen Demokratie, den Medien und der Wissenschaft nicht beziehungsweise nicht mehr. In der Zivilgesellschaft, in Vereinen und in anderen Organisationen seien sie jedoch aktiv und verhielten sich in ihrer Lebensführung durchaus politisch. Viele von ihnen seien neu politisiert, fast die Hälfte von ihnen habe in der Vergangenheit noch an keinem anderen Protest teilgenommen.

Wie passen diese Ergebnisse mit der verbreiteten Wahrnehmung zusammen, die der Bewegung eine unkritische Nähe bis hin zur Verbundenheit zur rechten und Neonazi-Szene vorwerfen?

Der Begriff „faschistische Querdenker“, deren soziale Demagogie es zu entlarven gelte, greift zu kurz. Es sind nicht nur die Abstiegsängste der aus der Mittelschicht stammenden Gefolgsleute der Bewegung. Die multiplen Krisen des neoliberalen Systems erzeugen „verquere“ Reflexe. Hierzu die Baseler Studie: „Die Entfremdung von der industriell geprägten und durchrationalisierten Hypermoderne zeigt sich nicht nur in der Skepsis gegenüber ihren Institutionen, wie zum Beispiel den Parteien, sondern auch bezüglich einer romantisch inspirierten Hinwendung zu ganzheitlichen, anthroposophischen Denkweisen, dem Glauben an die natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers, Forderungen nach mehr spirituellem Denken und dem Wunsch, Schulmedizin und alternative Heilmethoden gleichzustellen.“

Die Bewegung gleicht in vielem der bürgerlichen Lebensreformbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts, die die Zumutungen der Verstädterung und der Industrialisierung mit der individuellen Flucht in alternative Lebensformen beantwortete. Die spätbürgerliche Ideologie, in der die Lebensreformbewegung wurzelte, bildete auch den Flickenteppich der in den 1920er Jahren aufkommenden faschistischen Ideologie. „Alles was die allgemeine parasitäre Entwicklungstendenz der imperialistischen Periode philosophisch hervorgebracht hat: Eklektizismus und Apologetik, Agnostizismus und Mystik, Irrationalismus und Romantik – all das wurde hier mit skrupelloser Gewandtheit in ein demagogisch wirksames ‚System‘ zusammengefasst.“ (Georg Lukács)

Krisen erzeugen tiefe Spuren auch in der Arbeiterklasse. Ihre Ausformung unterscheidet sich von denen in den Mittelschichten.

Eine Studie der TH Darmstadt unter gewerkschaftlich Aktiven ergab, dass bei den prekär Beschäftigten der Anteil von AfD-Sympathisanten bei 30 Prozent liege. „Da wo die Verunsicherung am größten ist und die Ohnmachtserfahrung vorherrscht, da gewinnt die AfD“, heißt es in der Studie. Probleme würden heute als individuelles Versagen gesehen und nicht im Zusammenhang mit den Prägungen durch gesellschaftliche Strukturen. In den letzten Jahrzehnten seien die Erfahrungen von Kollektivität verloren gegangen und ein langer Prozess der Erosion von kulturellem Selbstverständnis habe eingesetzt. In diese Verunsicherung stoße die AfD hinein: Sie mache Deutungsangebote, zum Beispiel werde der Verteilungskampf umgedeutet in einen Kampf zwischen Deutschen und Flüchtlingen. Die Gewerkschaften spielten eine eminent wichtige Rolle. Sie genießen nach wie vor großes Vertrauen. 85 Prozent aller Befragten wünschten sich eine offensivere und stärker konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik. Das müssten sich die Gewerkschaften unbedingt vergegenwärtigen. Nur wenn sie kämpften, könnten sie diesen Vertrauensvorschuss behalten. Die Erfahrung kollektiven Handelns sei wichtig, das Gefühl, gemeinsam etwas durchsetzen zu können. Nur so könne den Beschäftigten die Ohnmachtserfahrung genommen werden. Grundsätzlich sei es ein Fehler, nicht mit denen zu reden, die die AfD wählen. Es sei falsch, sie einfach als Nazis oder Rassisten zu beschimpfen. „Dann machen die dicht und hören uns nicht mehr zu. Das sind ja nicht alles Nazis. Das sind Leute, die bei den letzten Wahlen oft noch Linkspartei oder SPD gewählt haben. Das ist das Problem, wenn gesagt wird, das seien alles Rassisten: Dass man mit denen nicht mehr redet. Wir müssen mit denen reden, müssen ihnen zuhören, damit wir auf ihre Argumente eingehen können“, so Studienautor Ulrich Brinkmann. Es gehe darum, Ursachen sozialer Konflikte aufzuzeigen und durch solidarisches Miteinander und Kampforientierung zu zeigen, dass Veränderungen durch Solidarität möglich sind.

Der kommunistische Traditionsbegriff dafür lautet Aktionseinheit. Aktion wie Einheit der Arbeiterklasse sind schwach entwickelt – günstige Bedingungen für rechte Rattenfänger. Das ändern zu wollen, ist wesentlicher Bestandteil kommunistischer Politik.

Das Werkzeug dafür ist ein besseres Verständnis von Ideologie und Bewusstsein. Erich Hahn verweist in seiner Schrift „Ideologie“ auf Marx und dessen konsequent historisch-materialistische Analyse. Das bedeute zu erkennen, dass nicht nur „das gesellschaftliche Bewusstsein schlechthin, sondern ebenso seine Verkehrungen und Trugbilder (…) materialistisch als Widerspiegelung ‚verkehrter Gegenstände‘ und nicht als subjektive Irrtümer“ erklärt werden. „Die das falsche Bewusstsein erzeugenden und bedingenden Widersprüche haften der vom Menschen geschaffenen und gestalteten Realität an, es handelt sich um Widersprüche der sich im menschlichen Handeln objektiv entwickelnden gesellschaftlichen Beziehungen.“

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"Nicht an falschen Fronten verkämpfen", UZ vom 26. März 2021



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