Über die angebliche Verteidigung der Demokratie

Nicht ablenken lassen

Auch im Jahr 2020 steht der Feind in der öffentlichen Debatte in Deutschland links. Doch seitdem Bilder von vermeintlichen Reichstagsstürmern um die Welt gingen, scheint die ganze Republik – geschlossen und über Parteigrenzen hinweg – einig zu sein im Kampf gegen Rechts. Woher kommt das?

Was war passiert? Das Innenministerium hatte eine Ausnahmegenehmigung für eine Kundgebung im Rahmen der „Corona-Rebellen“-Proteste erteilt. Warum Ausnahmegenehmigung? Weil die Kundgebung innerhalb der undemokratischen Bannmeile vor dem Parlament stattfinden durfte, wenige Meter von den Stufen des Reichstags entfernt. Der Pulk, welcher von schwarz-weiß-roten Fahnen dominiert war, strömte in Richtung des politischen Wahrzeichens. Dutzende anwesende Bereitschaftspolizisten auf der Treppe formierten sich und drängten in Menge in kurzer Zeit ab.

Doch diese Bilder gingen nicht durch die Leitmedien. Vielmehr zeigte man erst einmal drei scheinbar überforderte Polizisten, die wohl alleine und mit Schlagstöcken in der Hand den Sitz des Bundestages verteidigen mussten. Als läge die politische Macht auf der Straße und als hätte sich die Republik in letzter Sekunde gegen einen Pulk Verrückter verteidigt, zeigte sich das politische Berlin empört.

Im Nachgang zeigt sich, wozu diese Erzählung dient: Jegliches politische Handeln der Herrschenden wird mit Corona begründet. Wer die Politik der Bundesregierung kritisiert, scheint wohl Corona-Leugner zu sein. Die „Corona-Rebellen“ kommen da wie gerufen, denn Leugnen unterstellt einen irrationalen Zugang zur Kritik an den Corona-Maßnahmen, so wie eben ein großer Teil dieser Proteste sich in irrationalen Erklärungsmustern einnebeln lässt. Dass sie damit einen Raum schaffen, in dem esoterische und demagogische Positionen bis hin zu faschistischen Symboliken und Organisationen mindestens toleriert werden, passt dazu. Dass Faschisten neuerdings als „Reichsbürger“ bezeichnet und verniedlicht werden, ebenso.

Dass jedoch der deutsche Staat nach einem ursprünglichen Demo-Verbot nicht in der Lage gewesen wäre, die Wahrzeichen seiner politischen Herrschaft zu verteidigen, das passt nicht und stimmt auch nicht. Auf die explizite Frage nach dem Einsatz von Geheimdienstleuten auf der fraglichen Demonstration antwortet das Innenministerium unmissverständlich, dass „alle Behörden, die eine rechtliche Zuständigkeit haben, auch im Einsatz gewesen sind“.

Dort, wo jegliche Kritik an der herrschenden Politik in Corona-Leugnung umgedeutet wird, wird der irrationalen Gegenwehr Tür und Tor geöffnet, ebenso wie den demagogischen, faschistischen Rattenfängern. Die Regierungspolitik wird als goldene „Mitte“ bezeichnet und so auch linke Kritik in die bürgerliche Herrschaft integriert. In einer im gleichen Zeitraum veröffentlichen Umfrage von „Infratest dimap“ sagen sogar 70 Prozent der Linksparteianhänger, dass sie mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden sind.

Der Corona-Sommer 2020 wird in Erinnerung bleiben. Unter anderem, weil sich alle darin einig waren, dass der Feind rechts steht. Er wird aber auch in Erinnerung bleiben als die Zeit, in der die letzten Arbeits- und Sozialstandards über Bord geworfen wurden oder als die Debatte um Flüchtlingshilfe und Umweltschutz über Nacht beendet wurde. Der Sommer, in dem die Exekutive durchregierte und Wanderarbeiter in der Billigproduktion verseucht wurden. Der Sommer, in dem das Versammlungsrecht mit Füßen getreten und das Säbelrasseln gegen die NATO-Gegner intensiviert wurde. Das waren weder die Reichskriegsfahnen schwenkenden Faschisten noch esoterisch geprägte Corona-Rebellen. Wer darüber nicht reden will – egal welcher politischen Couleur –, legitimiert die nächste Krisenabwälzung auf dem Rücken der lohnabhängigen Klasse.

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"Nicht ablenken lassen", UZ vom 11. September 2020



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