Auf die bundesdeutschen Verfassungsschutzämter kommt einiges an Arbeit zu. Die Proteste gegen Kontakt-, Versammlungs- und Demonstrationsverbote in den Pandemiejahren 2021 und 2022 spülten es an den Tag: Jenseits der alljährlich im Verfassungsschutzbericht gelisteten Organisationen, die als Verfassungsfeinde ohnehin auf der Abschussliste der Schlapphüte stehen, gibt es da noch diese diffuse Gruppe von Menschen, die Zweifel am Regierungshandeln artikulieren oder gar Behörden und Institutionen in Frage stellen. Keine „klassischen Verfassungsfeinde“ oder „Extremisten“, sondern jene, die „sich auf ein scheinbares Widerstandsrecht gegen eine vermeintlich autoritäre und abseits demokratischer Prinzipien handelnde Staatsmacht“ berufen.
Über die Zahl der Unzufriedenen geben die Meinungsforschungsinstitute Auskunft: Laut einer CIVEY-Umfrage vom November gaben 53 Prozent der Befragten an, in die Arbeit der Ampel-Koalition gar kein Vertrauen zu haben. Die Körber-Stiftung ermittelte im August, dass 54 Prozent nur ein geringes bis gar kein Vertrauen in die deutsche Demokratie hätten, 71 Prozent meinten, dass die Führungseliten in Politik und Medien ohnehin nur isoliert „in ihrer eigenen Welt“ leben. Regierungskritiker, zumal solche, die den von Russland „gestreuten Verschwörungsmythen“ zur NATO anhängen oder ihre Empathie mit den Opfern israelischer Bombardements allzu offen zeigen, finden sich in der extra vom Verfassungsschutz für sie geschaffenen Schublade mit der Aufschrift „Delegitimation des Staates“ wieder.
Vorausschauend wusste schon der Verfassungsschutzbericht 2022: Auch durch solches Denken und Sagen wird „das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt“. So lange, bis die derzeit zersplittert über das ganze Strafgesetzbuch verteilten Meinungsäußerungsdelikte zu einem einheitlichen Straftatbestand namens „Delegitimierung des Staates, seiner Repräsentanten und Institutionen“ zusammengefasst werden, behelfen sich die Verwaltungsgerichte und wahrscheinlich demnächst auch die Arbeitsgerichte mit Sanktionen wegen angeblicher Verstöße „gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung“.
Wie erst jetzt bekannt wurde, hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) durch Urteil vom 14. Juni 2023 einem Soldaten im Ruhestand die Altersbezüge gestrichen. Grund hierfür waren Äußerungen wie: „Ich schäme mich für diesen Staat, dem ich über 30 Jahre treu gedient habe“, oder „Wir in Deutschland lassen uns von einem Bankkaufmann (gemeint war Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn) unsere Menschenrechte nehmen. Sind wir denn alle bescheuert?“.
Die so vom höchsten Verwaltungsgericht Deutschlands vorexerzierte Einschränkung der Meinungsfreiheit hat Methode: Regierung oder Verfassungsschutz kreieren bewusst nebulöse Begriffe wie „Staatsräson“ und „Delegitimation“, die weder aus der Verfassung noch aus dem Staatsrecht hervorgehen. Die Gerichte nehmen diese Kampfbegriffe auf, verfestigen sie durch stetige Verwendung, bis der Gesetzgeber sie abschließend durch die Hintertür unter Berufung auf die „ständige Rechtsprechung“ in Gesetze gießen kann. Verfassungsrechtler schütteln den Kopf ob dieser Praxis: „Wenn der Verfassungsschutz heftige Kritik an der Regierungspolitik als ‚delegitimierend‘ und daher extremistisch aus dem demokratischen Diskurs verdrängen will, dann verfehlt er nicht nur seine Aufgabe, sondern wird damit selbst zum Problem für die Demokratie“, fasst der Staatsrechtler Dietrich Murswiek von der Universität Freiburg zusammen.
Längst hat sich der Verfassungsschutz gewandelt. Vom Ausforscher, Abhörer und Schnüffler hin zum regierungswillfährigen Stichwortgeber und Verwalter immer neuer Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Vor sieben Jahren wurde dem Inlandsgeheimdienst der „Big-Brother-Award 2016 in der Kategorie ‚Lifetime‘ für 65 Jahre Datenschutz- und Bürgerrechtsverletzungen“ von den Grundrechtsschützern der Vereinigung „Digitalcourage“ verliehen. Inzwischen hat sich der in die Jahre gekommene Dienst zum Wahrheitsministerium Orwellschen Ausmaßes weiterqualifiziert.