Zur Arbeitskampfbilanz

Neue Streikkultur?

„Insgesamt sind es vor allem die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen, die eine offensive Tarifpolitik begünstigen, die auch massive Warnstreiks und als Ultima Ratio sogar die Durchführung von Erzwingungsstreiks einbezieht.“

Diese Einschätzung der Autoren der „WSI-Arbeitskampfbilanz 2022“ kann man durchaus als ein Plädoyer für eine neue Streikkultur interpretieren. Während in Frankreich, Belgien oder zuletzt auch in Britannien heftige Arbeitskämpfe toben, wurde hierzulande noch das Hohelied der „Sozialpartnerschaft“ angestimmt.

Tatsächlich sind Tarifrunden, in deren Verlauf es auch zu Arbeitsniederlegungen kommt, in Deutschland bisher die Ausnahme. So wurden beispielsweise im Vor-Corona-Jahr 2019 laut Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales insgesamt mehr als 5.500 Tarifverträge neu registriert. Im gleichen Jahr verzeichnete das Tarifarchiv des WSI jedoch lediglich 227 Tarifauseinandersetzungen, in deren Verlauf zumindest einmal die Arbeit niedergelegt wurde.

Die Zahl der Tarifkonflikte, die über Warnstreiks hinaus bis zu Urabstimmung und Erzwingungsstreik eskalierten, bewegen sich im Promillebereich. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass nur wenige Lohnabhängige hierzulande Arbeitskampferfahrung haben. Selbst unter den Gewerkschaftsmitgliedern hat gerade einmal jeder Zweite in seinem Erwerbsleben an Streiks teilgenommen. Wie sollen Kolleginnen und Kollegen ohne die Erfahrung des eigenen aktiven Handelns ihre Wirkungsmächtigkeit erkennen? Wie soll so (Klassen-)Bewusstsein entstehen?

Die aktuellen Tarifauseinandersetzungen deuten darauf hin, dass etwas in Bewegung geraten ist. Unabhängig davon, in welcher Branche sie stattgefunden haben, die Beteiligung an Warnstreiks war hoch. Das trifft für die Metall- und Elektroindustrie ebenso zu wie für den öffentlichen Dienst, die Bahn, die Post und nicht zuletzt die Universitätskliniken in NRW und Hessen – beim Kampf um Entlastungstarifverträge.

Besonders Mut machen die jüngsten koordinierten Aktionen der Einzelgewerkschaften über Branchengrenzen hinweg – und Kooperationen über den DGB hinaus. Dies sind noch lange keine „französischen Verhältnisse“, wie uns Teile der Medien glauben machen möchten. Aber angesichts von Rekordgewinnen der DAX-Konzerne auf der einen und Reallohnverlusten auf der anderen Seite sind die deutschen Gewerkschaften gezwungen – auch zur Legitimation ihrer eigenen Existenz – „mehr Klassenkampf zu wagen“.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Neue Streikkultur?", UZ vom 12. Mai 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit