Fragen der marxistisch-leninistischen Staatstheorie waren und sind ein Dauerthema kommunistischer Programmatik und strategischer Überlegungen und Kontroversen. Sie sind wieder aktueller geworden – vor allem deshalb, weil nicht nur in Frankreich, Großbritannien und anderen EU-Staaten, sondern auch im Kernland des Imperialismus, den USA, die Widersprüche aufgebrochen sind zwischen bürgerlich-kapitalistischen Staatsapparaten und wütenden Volks- und Klassenkräften. Diese Widersprüche haben eine Dynamik angenommen, die teilweise nicht nur Regierungsinstitutionen, sondern die Regierungsfähigkeit im traditionellen Sinne zu bedrohen beginnen.
Ausgangs- und Endpunkt
Lenin schrieb kurz vor der Oktoberrevolution: „Die Hauptfrage jeder Revolution ist zweifellos die Frage der Staatsmacht. Welche Klasse die Macht in den Händen hat, das entscheidet alles.“ Und: „In Zeiten der Volksrevolution, d. h. einer Revolution, die die Massen der Arbeiter und Bauern zu Leben erweckt hat, kann nur eine Macht fest und beständig sein, die sich offenkundig und unbedingt auf die Mehrheit der Bevölkerung stützt.“ Damit muss die Frage nach den Organen der Macht Ausgangs- und Endpunkt aller strategischen Überlegungen in jeder revolutionären Bewegung sein – und zwar in doppeltem Sinne: Einerseits Schaffung und Aufbau von Kampforganen zur Ausschaltung der bisherigen Macht und zur Eroberung der eigenen Macht durch das revolutionäre Volk bzw. die revolutionäre(n) Klasse(n). Das waren in der russischen Oktober- und der deutschen Novemberrevolution die Sowjets oder Räte der Arbeiter, Soldaten und Bauern. Andererseits dauerhafte Festigung und Weiterentwicklung der neuen revolutionären staatlichen Organe zur Festigung, Entwicklung und Sicherung der errungenen Macht im Sinne des revolutionären Programms.
Dies sind beileibe keine spezifisch „marxistischen“ Erkenntnisse. Auch die Ablösung der überlebten Feudalordnung durch das revolutionäre Bürgertum ging nicht vonstatten ohne Ausschaltung der alten und den Aufbau einer neuen Machtstruktur – das klassische Beispiel ist die Französische Revolution von 1789 bis 1795.
Den souveränen Willen unterwerfen?
Die Hauptstütze und zugleich der wichtigste Kampfboden der neuen Macht entstand sehr rasch nach der revolutionären Erhebung des „Dritten Standes“: die Nationalversammlung. Gestützt auf die Rebellion der Pariser Volksmassen, die sich mit dem Sturm auf das königliche Waffenarsenal und auf das Symbol der absolutistischen Macht, die Bastille, den Weg zur Macht freigekämpft hatten, setzte sich dieses neue Machtorgan an die Stelle des alten feudalen Machtapparats.
Es war der Sprecher des entschieden revolutionären Spektrums, der Vertreter der Jakobiner, Maximilien de Robbespierre, der die monarchistischen Manöver durchkreuzte, mit denen die Vertreter der Feudalherrschaft versuchten, in der neuen Verfassung einen Teil ihrer Macht zu erhalten. In einer flammenden Grundsatzrede vor der Nationalversammlung verdeutlichte er, dass das zentrale Anliegen der Revolution, die Brechung der Vorherrschaft der selbsternannten Feudalelite, ein neues Machtsystem erforderte, das auch den propagierten Idealen der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ entsprach: „Heute, wo eine ebenso bewundernswürdige wie unerwartete Revolution dem Volke alle ihm einst genommenen unveräußerlichen Rechte zurückgab, wer könnte heute gegenüber seinen eigenen Interessen gleichgültig genug sein, um seinen souveränen Willen den Launen und Leidenschaften des Hofes zu unterwerfen?“
Wer denkt bei diesen Sätzen und damaligen Umbrüchen heute nicht an das mühsame und gleichzeitig brutale Lavieren des noch vor einem Jahr bombenfest im Sattel sitzenden früheren Finanzmaklers und Bankiers Emmanuel Macron?
Nur scheinbar verschüttet
Macron war es vorübergehend gelungen, eine bis weit in die tiefsten Schichten von Arbeiterklasse und Kleinbourgeoisie reichende Empörung über die klaffenden Widersprüche zwischen schamlos zur Schau getragenem Reichtum der „Oberen Zehntausend“ und der immer mehr von sozialem Abstieg und echter Armut betroffenen Massen der Werktätigen sowie der unteren und mittleren französischen Mittelschichten auf seine Mühlen umzuleiten.
Doch in Frankreich sind die Erfahrungen der verschiedenen Revolutionen und Klassenschlachten des vorvergangenen und des letzten Jahrhunderts mit ihren Höhepunkten, der Pariser Commune von 1871 und auch den Erfahrungen des „Pariser Mai“ von 1968, nur scheinbar verschüttet gewesen. Denn objektiv setzt die Bewegung der „Gelbwesten“ an den aufrührerischen Perioden des Kampfes um die „Pouvoir du peuple“ (Macht des Volkes) an – und es ist egal, ob dies allen Akteuren so bewusst ist oder nicht.
Wird es beim Fortbestehen einer kämpferischen Bewegung von „Gelbwesten“ womöglich auch zu einer Renaissance dieser Entstehung neuer Formen der direkten Machtausübung durch das werktätige Volk in Frankreich kommen?
Die umfangreichen Berichte über Ursachen und Ziele der französischen „Gelbwesten“-Bewegung, in der sich vom sozialen und ökonomischen Abstieg bedrohte Teile der französischen Mittelschichten zusammen mit relevanten Teilen der Arbeiterklasse und kleineren Bauern in zunächst spontanen und dezentralen Protestaktionen zusammenfanden, lässt nicht nur das große allgemeine Unbehagen erkennen, das die herrschenden bürgerlichen Eliten EU-Europas gepackt hat. Sie spüren, dass es jetzt um mehr als nur um rein ökonomische und soziale Forderungen gehen könnte, sondern dass in Frankreich – und womöglich auch darüber hinaus – tatsächlich auch eine politische Neu- und Umstrukturierung des undemokratischen staatlichen und parlamentarischen Systems verlangt werden könnte.
„Gehört werden“ – und dann?
Im Forderungskatalog der „Gelbwesten“ drückt sich zunächst vor allem der massenhaft verbreitetete Unmut darüber aus, dass die politische Elite und ihre Parteien und Institutionen dem Volk „zu wenig Gehör“ schenken. Ihre Reformforderungen deuten noch nicht auf eine wirkliche Veränderung im Machtgefüge hin. Sie enthalten aber einige Elemente direkter Volksbeteiligung, die bei einer Vertiefung der Bewegung einen nächsten Schritt vom besseren „Gehörtwerden“ zu einer Dezentralisierung von Entscheidungen und zu echter Mitbestimmung (oder gar mehr) führen könnten.
„Volksentscheide sollen in die Verfassung aufgenommen werden. Schaffung einer gut lesbaren und effizienten Website, überwacht durch ein unabhängiges Kontrollorgan, auf der die Menschen Gesetzesvorschläge einbringen können. Wenn ein solcher Vorschlag 700 000 Unterschriften erhält, muss er von der Nationalversammlung diskutiert, ergänzt und gegebenenfalls mit Änderungsvorschlägen der Nationalversammlung vorgelegt werden, die verpflichtet ist, ihn genau ein Jahr nach dem Stichtag der Erlangung der 700 000 Unterschriften der französischen Bevölkerung zur Abstimmung vorzulegen.
Rückkehr zu einem 7-Jahres-Mandat für den Präsidenten der Republik. Die Wahl der Abgeordneten zwei Jahre nach der Wahl des Präsidenten würde dem Präsidenten der Republik ein positives oder negatives Signal zu seiner Politik geben. Dies würde dazu beitragen, der Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen.“
Dies sind vergleichsweise „harmlose“ Forderungen. Sie sind noch nicht auf einen Systembruch angelegt.
Brüchige Integration
Aber es geht nicht nur um Frankreich: „Volk und Verführer“, so wurde kurz nach Jahresbeginn ein ausführlicher Kommentar zu den Brexit-Debatten des britischen Parlaments in der „Süddeutschen Zeitung“ überschrieben.
Der Autor, Stefan Ulrich, zerbricht sich grundsätzlich und weit über das Thema „Brexit“ hinausgehend den Kopf über die Krise des bürgerlich-parlamentarischen Systems. Er stuft die Kontroverse um den „Brexit“ als Indikator eines weltweiten Niedergangs der „Demokratie“ ein und schreibt: „Der moderne Parlamentarismus, als dessen Wiege das englische Parlament gilt, durchlebt ausgerechnet in London eine finstere Stunde.
Und das ist nur ein Beispiel für die Krise, mit der die repräsentative Demokratie weltweit kämpft. Parlamente und klassische Parteien werden von Populisten als Teil einer volksfernen Kaste verächtlich gemacht.“
Die so genannte „Krise der Volksparteien“ und des Parlamentarismus entwickelt sich seit über einem Dutzend von Jahren. Die Erschütterungen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 bis 2008 beschleunigten nur einen bereits vorher begonnenen Erosionsprozess. Nach dem zeitweiligen Triumph des „westlichen Demokratiemodells“ über das „diktatorisch-sowjetische“ wurde bereits Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends deutlich, dass das bisherige, so erfolgreiche parlamentarische Regime der „sozialen Marktwirtschaft“ an die Grenzen seiner Integrationsleistung gestoßen war.
In einer Grundsatzrede vor dem CDU-Bundesvorstand über die „Sozialstaatliche Erneuerung“ plädierte Angela Merkel im Jahr 2006 zum Auftakt der gerade angelaufenen Debatte über ein neues CDU-Grundsatzprogramm für eine neue Rolle des imperialistischen Staates im System einer „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“. Der neue „Freiheits“-Begriff der künftigen CDU-Programmatik sollte noch viel deutlicher als bislang mit der Freiheit für das Kapital gleichgesetzt werden. Ihre Rede lief darauf hinaus, den Staat noch offener zu einem militarisierten Unternehmerstaat zu machen. Dazu gehöre die Bereitschaft zur stärkeren „Konfliktfähigkeit“ nach innen wie nach außen und das Ende von zu viel „Kompromissen.“
Im oben genannten Kommentar von Ulrich zur gegenwärtigen Lage im EU-Europa klingen ähnliche Töne an: „Zu viel Demokratie kann offene Gesellschaften zerstören, den inneren Frieden gefährden und Machtmissbrauch erleichtern … Das Gebot der Zeit lautet daher: mehr Parlamentarismus, mehr indirekte Demokratie wagen.“
Der Ausweg aus der gegenwärtigen Krise der bürgerlichen (Volks-)Parteien und des von ihnen über viele Jahrzehnte geprägten Machtmechanismus geht also eindeutig in die Richtung bewusster Zentralisierung, Betonung noch autoritärerer Regierungs- und Machtausübung. Die „Freiheit“ für das Kapital soll noch entschiedener verwirklicht und abgesichert werden. Demokratische „Experimente“ sollen gestoppt, Kompromisse zurückgeschraubt und der „Demos“, das Volk, noch weniger gefragt und „gehört“ werden.
Von Volkszorn zu Gegenmacht
Die derzeitige Welle der „Entrüstung“ verbreitet und vertieft sich – wozu schon vor einigen Jahren der alte und mittlerweile verstorbene französische bürgerliche Diplomat und früheres Mitglied der „Résistance“, Stéphane Hessel, in seinem Aufruf „Entrüstet Euch!“ nicht nur die Mehrheit der französischen Werktätigen, sondern auch die in anderen Staaten Europas aufrief. Dazu müsste ganz sicher auch der Aufbau von Organen einer sich entwickelnden dauerhaften Gegenmacht zählen.
Kommunistische Aufgabe ist es, sich nicht mit der Rolle der Zuschauer und Kommentatoren zu begnügen, sondern von innen wie auch von außen diese Bewegung des Volkszornes zu unterstützen. Darum bemüht sich auch die DKP im Wissen um eine wieder sehr aktuell gewordene Einschätzung Lenins, in der er die Besonderheiten einer Entwicklung hin zu sozialistischen Umwälzungen in Westeuropa einmal so charakterisiert hatte: „Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich –, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen) so verhassten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken ‚entledigen‘ wird.“
Der Forderungskatalog der „Gelbwesten“ ist nicht in Stein gemeißelt. Dort heißt es: „Diese Liste ist nicht vollständig, aber später wird der Wille des Volkes gehört und angewandt werden über die Schaffung eines Systems des Volksentscheides, das schnell eingeführt werden muss.“
Erfahrungsgemäß haben es große Massenbewegungen an sich, dass sich in ihrem Verlauf Anfangsforderungen verändern, radikalisieren und auch verbreitern. Ob dies im Frankreich von heute der Fall sein wird, das wissen wir nicht und können es auch als DKP nur dadurch unterstützen, indem wir in unserem Land für die Solidarität mit dieser Volksbewegung und ihren demokratischen und weiterführenden Forderungen werben, damit sich das Potential einer weitergehenden Veränderung der Machtverhältnisse in einem der Kernländer der EU verstärkt.