Bilanz der 68. Berlinale

Neue (Irr-)Wege für das Kino

Von Hans-Günther Dicks

Die Berlinale im Jahr 1 nach Weinstein und Metoo-Bewegung. Zwar hatte Hollywood außer Wes Andersons Animationsfilm „Isle of Dogs“, der immerhin den Regie-Bären bekam, kaum Nennenswertes zum Wettbewerb geschickt, aber den Petitionen, Hashtags und Debatten um sexuelles Fehlverhalten im Filmgewerbe entging Festivalchef Kosslick nicht. Den Roten Teppich wie gefordert schwarz zu streichen lehnte er als „Symbolpolitik“ zwar ab, versprach aber die Einrichtung einer anonymen Beratungsstelle und verwies darauf, dass immerhin vier Regisseurinnen es mit ihren Filmen in den Wettbewerb geschafft hatten. Sichtlich tiefer beugte sich die Internationale Jury den Forderungen der Metoo-Bewegung: Der Goldene Bär und fünf weitere der zehn Hauptpreise gingen an Frauen – sechs zu vier, ein klarer Sieg! Hätte Jurypräsident Tom Tykwers das gemeint mit seiner Maxime, „nicht nur zu würdigen, was das Kino kann, sondern auch, wo es hingehen kann“, wäre dem Festival der wohl umstrittenste Goldbär seiner Geschichte erspart geblieben. „Touch me not“ ist eine über sieben Jahre und ohne Drehbuch entstandene Sammlung diverser Sexpraktiken in der Regie der Rumänin Adina Pintilie, eine Art verfilmter Angebotskatalog eines Swingerclubs, aus dem in der von mir besuchten Vorstellung etwa ein Drittel der Zuschauer vorzeitig flüchteten. Soll das die Zukunft des Kinos sein?

Auch der Silberbär für „Twarz“ („Das Gesicht“) der Polin Malgorzata Szumowska kam für viele überraschend. Berlinale-Stammgast Szumowska nimmt als Hauptfigur einen jungen Hallodri, dem nach einem Arbeitsunfall die erste Gesichtstransplantation in der polnischen Geschichte zuteil wird; die entstellt ihn, macht ihn aber zum Nationalhelden und Medienstar, zumal an seiner Baustelle die weltweit größte Jesus-Statue entsteht – was aus „Twarz“ eine höchst doppelbödige, wenn auch nicht immer klare Allegorie auf Polens Gesellschaft macht. Ähnlich wie Szumowskas Film zeugt „Las Herederas“ von Mut in einer repressiven, von Religion geprägten Gesellschaft, denn der aus Paraguay stammende Regisseur Marcelo Martinessi wählte als Titelfiguren ein lesbisches Paar. Sein Film erhielt den renommierten Alfred-Bauer-Preis, Hauptdarstellerin Ana Brun Silber für die Rolle der Chela. Der Iraner Mani Haghighi spielt mit seiner schrägen Groteske „Khook“ („Schwein“) auf die Lage der Kulturschaffenden in seinem Land an: Ein Serienmörder geht um und tötet die Elite der Filmregisseure – darunter, welch feine Selbstironie, Haghighi selbst. Doch ausgerechnet Hasan, der sich selbst für den Größten unter ihnen hält, obwohl er wegen Arbeitsverbots nur billige Werbefilmchen drehen darf, lässt er am Leben. Eine herrliche Harlekinade mit Hintersinn!

Vier deutsche Filme im Wettbewerb, das gab es bisher fast nie. Noch dazu mit einer Breite an Themen und Stilen, wie man sie in Zeiten von „Fack ju Göhte 3“ kaum mehr zu erwarten wagt. Dass ein dreistündiges Opus von Philip Gröning „über Zwillinge, … über Glück und Trennung, über Philosophie, Leben, Sex und Tod“ (Originalton Presseheft) mit dem monströsen Titel „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ bei Publikum oder Jury Anklang finden könnte, war kaum zu erwarten. Anders bei Emily Atefs „3 Tage in Quiberon“, einer von Kameramann Thomas W. Kiennast in feinem Schwarzweiß gedrehten Episode aus der Mediengeschichte, nämlich dem legendären Interview des „Stern“ mit dem deutschen Weltstar Romy Schneider in der Bretagne kurz vor ihrem Tod. In die Figur des hartnäckigen Interviewers Michael Jürgs, gespielt von Robert Gwisdek, hat Atef arg viel Frust über nervende Journalisten hinein geschrieben, aber mit Charly Hübner als Fotograf Robert Lebeck, Marie Bäumer als Romy und Birgit Minichmayr als ihre Freundin Hilde eine Idealbesetzung gefunden für ein Psychodrama um die Last des Starruhms und das Geschäft der Medien. Bei der Jury blieb es zwar erfolglos, wird im Kino aber gewiss sein Publikum finden.

Was das Kino kann und wohin es gehen könnte? Das war zu sehen in Christian Petzolds Anna-Seghers-Verfilmung „Transit“ und vor allem in Thomas Stubers „In den Gängen“, die in dem vielseitigen Bühnen- und Filmschauspieler Franz Rogowski auch noch ihren Hauptdarsteller teilen. Petzolds Entscheidung, Seghers‘ Geschichte aus dem Marseille des Jahres 1942 in den Kulissen des heutigen Marseille spielen zu lassen, unterlegt mit Passagen des Romans, ist zwar wegen des Wechsels von Handlung und Off-Stimme gewöhnungsbedürftig, entgeht aber der Versuchung, das Thema Flucht und Verfolgung als historisch erledigt abzutun. Rogowski gibt dem Flüchtling Georg ein von Angst und Gejagtwerden geprägtes Gesicht. Dieser Georg ist ständig in Bewegung, denn er spielt eine Doppelrolle, einmal in der falschen Identität eines Schriftstellers, dessen Selbstmord ihm die begehrten Ausreisepapiere in die Hände spielt, und zugleich als Partner von dessen nichts ahnender Frau. Ganz anders die Figur, die Rogowski in Stubers Film spielt. Dieser Christian steht, vor kurzem aus der Haft entlassen und als Packarbeiter in einen Großmarkt vermittelt, an seinem ersten Arbeitstag in den Schluchten der Getränkeabteilung zwischen umhersausenden Gabelstaplern, fast stumm, schüchtern und unbeholfen bei der Arbeit wie bei der kessen Kollegin Marion (Sandra Hüller). Die muntert ihn auf, wohl auch, weil sie daheim von ihrem Ehemann „nicht gut behandelt wird“, wie Christian von seinem Vorarbeiter Bruno erfährt. Von Bruno lernt er auch Staplerfahren und den alten Brigadegeist, der sich hier aus alten DDR-Zeiten noch erhalten hat, und auf Brunos Posten wird Christian nachrücken, als diesen die neuen Verhältnisse aus dem Leben treiben. Stubers Film mit seinen wie abgelauscht genauen Dialogen (Koautor Clemens Meyer!) entdeckt für das Kino die Arbeitswelt und das Leben der von ihr geprägten Menschen ganz neu – nicht als bloße Garnierung schicker Komödien, sondern als Erlebniswelt jenseits der Traumfabrik. Dahin könnte das Kino gehen – wenn es denn wollte.

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"Neue (Irr-)Wege für das Kino", UZ vom 2. März 2018



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