Egon und das achte Weltwunder
DDR-TV-Archiv. Icestorm 2011, 86 min, 9,99 Euro
www.icestorm.de
Gute Unterhaltungsfilme für ein jugendliches Publikum waren in der DDR eher selten, obwohl – oder weil? – um dieses Genre von Staats wegen zäh und ernst gerungen wurde. So sah sich zum Beispiel auch der für seine eher grüblerisch-depressive Art bekannte DEFA-Regisseur Konrad Wolf mit dem Ansinnen von „ganz oben“ konfrontiert, er möge doch gefälligst einmal eine Komödie drehen. (Dass ausgerechnet sein autobiographischer Kriegsfilm „Ich war neunzehn“ zu seinen humorvollsten, dabei bittersten Werken gehört, steht auf einem anderen Blatt.)
Das Publikum ging zwecks Unterhaltung lieber in westliche Filmproduktionen, besonders wenn es etwas zu lachen gab.
Sieht man DDR-Komödien dreißig oder – wie im vorliegenden Fall – fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung, stellt sich erst recht die bange Frage, ob das, was einst lustig sein sollte, heute nicht eher gequält, flach und an den Haaren herbeigezogen wirkt – zumal, wenn politische Aspekte hineinspielen.
Der Titel „Egon und das achte Weltwunder“ war in der DDR allgemein bekannt, geradezu ein geflügelter Begriff. Das gleichnamige Jugendbuch von Joachim Wohlgemuth war ein Bestseller, fast in jedem Bücherschrank Heranwachsender zu finden. Und das, obwohl – oder weil? – es literarisch alles andere als anspruchsvoll ist. Überdies verbindet es eine romantische Liebesgeschichte mit einem aktuell-politischen Anliegen, nämlich der Werbung für freiwillige Arbeitseinsätze unter Führung der FDJ. Da wurde, wie man so sagt, ungeniert mit der Wurst nach dem Schinken geschmissen.
Was wundert es, dass der DDR-Fernsehfunk eiligst eine Verfilmung dieses Stoffes bei der DEFA in Auftrag gab?
Als Regisseur wurde Christian Steinke gewonnen, die Kamera führte der spätere Regisseur Roland Gräf, die eingängige Musik steuerte Rolf Kuhl bei. Die Produktion wurde übrigens von einer Frau, Anni von Zieten, geleitet.
Die Story: Titelheld Egon, Hilfsarbeiter auf dem Bau, gehört einer dilettantischen, aber um so selbstbewussteren Halbstarken-Band an. Er musiziert auf dem Kamm, ein anderer auf dem Waschbrett, das Vibraphon wurde aus leeren Flaschen gebastelt. Die „Boys“ spielen Tanzmusik mit viel Elan und wenig Sachverstand. Sie tragen Jeans, Lederjacken und bemalte Clubkrawatten, besaufen sich gern und fangen dann Prügeleien an. Nach einer solchen wird Egon wegen Körperverletzung zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt. Als er herauskommt, hat er genug und will sein Leben ändern. Das ist aber leichter gedacht als getan, denn die „Boys“ haben auf ihn gewartet und wollen ihn wieder einbinden.
Zufällig geraten sie in eine Abiturientenfeier, bei der Egon die hübsche und anspruchsvolle Christine kennen lernt, die Medizin studieren will. Ihre Mitschüler sagen von ihr, es sei ein „achtes Weltwunder“, wenn sie sich einmal verlieben würde.
Auch bei dieser Feier zetteln die „Boys“ eine Rauferei an. Anschließend soll sich Egon bewähren, ihm wird ein „freiwilliger“ Arbeitseinsatz auf der Großen Wiese vorgeschlagen. Er verpflichtet sich gern – denn auch Christine wird dort sein …
Die weitere Handlung erzählt davon, wie der Rowdy unerwartet zum Brigadier seiner Gruppe wird, wie er sich den ihn verfolgenden „Boys“ mit unfeinen Tricks zu entziehen versucht, wie er Christine umwirbt und der „höheren Tochter“ sein skandalöses Vorleben und den Knast ängstlich verschweigt – bis am Ende doch alles ans Licht kommt.
Fehler hat dieser Schwarzweißfilm trotz flotter, lebensnaher Dialoge einige. Obwohl die „Boys“ nicht durchweg als schlechte Burschen vorgeführt werden, verbleiben sie doch – außer Egon – allesamt auf der negativen Seite der Gesellschaft. Vom eigentlichen (oder angeblichen) Thema des Buchs und des Films – den Meliorationsarbeiten der jungen Leute auf den Moorwiesen – ist fast nichts zu sehen. Gezeigt werden nur Hin- und Rückfahrten auf dem Laster; einmal steht Egon mit dem Spaten Modell für einen Fotografen der Tageszeitung „Junge Welt“. Das Kulturleben in den Wohnbaracken beschränkt sich weitgehend auf das feierliche Gelöbnis, keine Liebschaften anzufangen – Egon verstößt als Erster dagegen – und auf die Idee, gemeinsam Schach zu spielen. Der FDJ-Funktionär bleibt entsprechend blass und wirkt etwas komisch-unbeholfen.
Auch die übrigen Figuren wie die „Boys“ und Egons alleinstehende Mutter werden nicht detailliert oder gar tiefgründig beleuchtet. Erstaunlicherweise macht das aber wenig aus, denn die beiden Hauptdarsteller tragen den Film fast allein. Weniger durch große Schauspielkunst als durch Lebendigkeit und Authentizität. Gunter Schoß als Egon gibt glaubhaft sowohl den halbstarken Angeber als auch den verunsicherten jungen Mann und schüchtern Verliebten; seine innere Wandlung muss man eben hinnehmen. Der gutaussehende Schauspieler mit der markanten tiefen Stimme hat u. a. bis Ende 2015 beim mdr-Fernsehen die Reihe „Geschichte Mitteldeutschlands“ moderiert.
Die blonde Traudl Kulikowsky als Christine gehörte zu den hoffnungsvollsten Nachwuchsstars der DEFA; heute wird sie vor allem im Westen kaum jemand kennen. Ihre Biographie ist eine betrübliche – nach ersten Erfolgen, auch in Filmen ihres Ehemanns Horst Seemann, erhielt sie immer weniger Angebote. Angeblich wurde sie von ihrem Mann geschlagen und fand Trost bei einem Mitarbeiter des MfS, der sie als IM anwarb. Sie soll Berichte über bekannte Schriftsteller wie Franz Fühmann und Stefan Heym geschrieben und selbst enge Freundinnen bespitzelt haben. Beruflich half ihr das wenig, und so wandte sie sich der politischen Opposition zu und kehrte 1984 der DDR den Rücken. Da ist wohl einiges schiefgelaufen.
In ihrer ersten Hauptrolle als Christine ähnelt sie der jungen Romy Schneider in der Komödie „Die Halbzarte“, in der die nach ihrer Sissi-Periode eine moderne junge Frau mit Bubikopf spielte.
Natürlich, liebreizend und verletzlich, war Kulikowsky die klassische „jugendliche Naive“ mit dem gewissen Etwas, die Chemie zwischen ihr und Gunter Schoß stimmte.
Aus der Liebesgeschichte zweier ungleicher Partner bezieht der Film seine Wirkung, und auch wenn er die „sozialistische Moral“ der arbeitseifrigen FDJler nicht recht plausibel macht, vermittelt er, dass in der DDR der 60er Jahre – in den „Golden Sixties“ (Peter Hacks) – eine junge Generation herangewachsen war, die sich eine neue Moral, eine neue Freiheit zwischen den Geschlechtern erobert hatte. Der „Klassen“-Gegensatz zwischen dem Proll und der Intelligenzlerin schien nur noch ein äußerlicher zu sein. Mit Papas Kino hatte das nichts mehr zu tun, und es bedurfte keiner sexuellen Revolution, damit die Heldin sich beim Baden unbefangen ihres Bikinis entledigte.
Das alles ist nett und lustig anzusehen. Wer sich über den zeitgeschichtlichen Hintergrund informiert, kann von diesem Film auch mehr haben als knapp anderthalb Stunden gute Unterhaltung.