Zu den positiven Trends der jüngsten Tarifrunden

Nerv getroffen

Die Streiks der vergangenen Monate waren beeindruckend. Sowohl bei der Post wie auch bei der Bahn und im öffentlichen Dienst gab es eine gute Beteiligung an den Warnstreiks und eine hohe Kampfbereitschaft. Die positiven Erfahrungen der jüngsten Tarifrunden sollten aufgegriffen und genutzt werden. Die Abschlüsse als Ganzes gehören leider nicht dazu. Die Tarifrunden endeten mit Reallohnverlusten, zudem wirkt das „süße Gift“ der Inflationsausgleichsprämie. Tabellenwirksame Lohnerhöhungen wurden damit nach unten gedrückt. Dennoch: Forderungsdiskussion, Mobilisierung und Arbeitskampfformen verdienen eine nähere Betrachtung.

Etwa die Hälfte aller Arbeitskämpfe des vergangenen Jahres wurde im Dienstleistungssektor geführt – vor allem von ver.di. Damit setzt sich dieses Jahr ein Trend der vergangenen Jahre fort. Diese Streiks haben immer auch eine politische Dimension. Denn es geht nicht nur um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Löhne der Beschäftigten im Bereich der Daseinsfürsorge, sondern eben auch darum, wie wir die Bereiche Bildung, Gesundheit, Soziales, Post und Öffentlicher Verkehr für die Gesellschaft erhalten, gestalten und dem stetigen Verfall entreißen können.

Drei Streiks hatten eine ausgesprochen politische Bedeutung: Am 3. März streikten die Beschäftigten des Nahverkehrs mit der Klimaschutzbewegung, am 8. März war die Frauenbewegung gemeinsam mit Streikenden aus dem öffentlichen Dienst auf der Straße und am 27. März streikten Nah- und Fernverkehr gemeinsam. An diesen Tagen konnte man in den Mobilisierungs- und Warnstreikphasen spüren, welche Kraft die Arbeiterklasse in Deutschland in Streiks entwickeln kann, wenn sie sich für den Arbeitskampf entscheidet, sich über Branchen hinweg zusammenschließt und politische Themen mit einbezieht. Dementsprechend laut hat das Kapital aufgeheult. Die „halbe Republik“ sei in „Geiselhaft“ genommen worden. Es sei ein „Exzess“ gewesen, ja, ein „Generalstreik“, und eine „gefährliche Grenzüberschreitung“. Unter anderem wurde mit Angriffen auf das Streikrecht gedroht. Das zeigt, dass hier ein Nerv getroffen wurde.

Auch ein anderer guter Trend hat sich in vielen Tarifrunden durchgesetzt: Mindest- oder Festgeldbeträge zu fordern beziehungsweise abzuschließen. Beispielhaft waren die Forderung nach mindestens 500 Euro mehr im Monat für den öffentlichen Dienst, 500 Euro für die unteren Tarifgruppen in der Süßwarenindustrie und 650 Euro bei der Bahn. Mindestbeträge sind bei der Post und im öffentlichen Dienst Teil der Tarifeinigung – in Höhe von 340 Euro. In der Textil- und Bekleidungsindustrie sind es 230 Euro. Die Branche gehört zur IG Metall, für die Mindestbeträge bisher ein rotes Tuch waren. Dies gilt ebenso für die IG BCE. Auch hier gab es in der Papierindustrie einen Festbetrag von 200 Euro und in der Kautschukindustrie einen Festbetrag von 250 Euro, allerdings in mehreren Stufen.

Dass Festbeträge Schule machen, ist eine gute Entwicklung. Damit wird verhindert, dass die Lohnschere innerhalb der Klasse immer weiter auseinandergeht. Allerdings waren die Beträge und die Abschlüsse durchweg zu niedrig – sie bedeuten für die Beschäftigten einen Reallohnverlust. Anders als in den Industriegewerkschaften hat die Forderung nach Festgeld oder Mindestbeträgen bei ver.di bereits eine gewisse Tradition.

Ein weiteres positives Beispiel: Manche Gewerkschaften haben sich den Absprachen der konzertierten Aktion für steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, für niedrige tabellenwirksame Lohnerhöhungen und lange Tariflaufzeiten (UZ vom 28. April) verweigert. So zum Beispiel die NGG, die einen relativ guten Abschluss für die Zuckerindustrie hinbekommen hat – ohne Einmalzahlungen und ohne Nullmonate. Das Tarifergebnis: 7,5 Prozent mehr in zwei Stufen bei einer Laufzeit von 12 Monaten. In der Backwarenindustrie in Baden-Württemberg gibt es 8,5 Prozent mehr in zwei Stufen plus eine Inflationsausgleichsprämie von 1.250 Euro bei einer Laufzeit von 13 Monaten.

Auch die EVG ist bisher standhaft geblieben und setzt auf eine tabellenwirksame Erhöhung. Zum Angebot einer Inflationsausgleichszahlung Ende April erklärte EVG-Tarifvorstand Cosima Ingenschay: „Der angebotene Inflationsausgleich in Höhe von 2.850 Euro ist für die Kolleginnen und Kollegen so hilfreich wie ein Würfel Eis in der Wüste. Der schmilzt ruckzuck weg, die Probleme aber bleiben. Deshalb wollen wir eine dauerhafte monatliche Lohnerhöhung. Andere Unternehmen, mit denen wir verhandeln, bieten das bereits an. Warum die DB AG das nicht schafft, ist uns völlig unverständlich.“ So hat sich der „Arbeitgeberverband Deutsche Eisenbahnen“ (ÖPNV) mit ver.di auf eine tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte um 300 Euro monatlich ab Oktober 2023 geeinigt – bei einer Laufzeit von 18 Monaten sowie einer steuerfreien Einmalzahlung von 1.500 Euro.

Notwendig ist, diese Haltung der EVG zu stärken und die Streiks zu unterstützen, ebenso wie die Streiks in den verschiedenen Bereichen des Handels mit rund 5,4 Millionen Beschäftigten. Der Widerstand gegen die Reallohnsenkungen muss gestärkt werden. Er ist auch ein Kampf dagegen, dass die Kosten der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, der Aufrüstung, des Kriegs und der Krise weiterhin auf die Beschäftigten abgewälzt werden.

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"Nerv getroffen", UZ vom 19. Mai 2023



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