„Der ÖGB ist wie viele Gewerkschaften Europas in großer Sorge über diese Entwicklungen in der Ukraine.“ Diese Einschätzung von Wolfgang Katzian bezieht sich nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, auf den aktuellen Krieg in der ehemaligen Sowjetrepublik, sondern wurde von dem Präsidenten des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) bereits im Herbst 2021 geäußert.
Hintergrund hierfür waren massive Angriffe der Selenski-Regierung auf den 4,5 Millionen Mitglieder zählenden Dachverband der „Föderation der Gewerkschaften der Ukraine“ (FPU). Ein bereits im Herbst des vergangenen Jahres von der Kiewer Regierung ins Parlament eingebrachter Gesetzvorschlag sieht die Enteignung von Gewerkschaftshäusern vor. Begründet wurde dies von offizieller Regierungsseite damit, dass es sich bei den Gewerkschaftsimmobilien um ehemaliges sowjetisches Eigentum handele. „Regierung droht Gewerkschaften mit kompletter Entmachtung“ – diese Überschrift trägt denn auch ein Artikel vom 4. Oktober 2021, der auf der Homepage des ÖGB zu lesen ist.
Neben der Enteignung von Gewerkschaftsbesitz sieht die neoliberale Politik von Präsident Wladimir Selenski Änderungen im Arbeitsgesetz vor. Unter anderem ist die gesetzliche Gleichstellung von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ geplant. Dies hätte zur Konsequenz, dass nicht mehr Kollektivverträge die Arbeitsverhältnisse regeln, sondern Einzelverträge. Der individuell ausgehandelte Vertrag steht dann, so will es der Gesetzentwurf, über den ohnehin schon niedrigen gesetzlichen Mindeststandards.
Der Mindestlohn in der Ukraine beträgt gerade einmal 190 Euro und auch der Durchschnittslohn bewegt sich mit 445 Euro am unteren europäischen Rand. Es ist daher kein Wunder, dass schon vor dem Krieg rund zwei Millionen Ukrainer das Land zum Arbeiten dauerhaft verließen. Dazu kommen noch einmal drei Millionen Saisonarbeiter. Eine Tendenz, die zu einem enormen Arbeitskräftemangel führte, was dem Arbeitsmarkt und der Wirtschaft im Land an der Schwarzmeerküste enorm geschadet hat.
Der Automobilkonzern Skoda scheiterte beispielsweise mit seinem Plan, eine Fabrik in der westlichen Ukraine zu errichten, weil es nicht ausreichend Arbeitskräfte gab. Dies alles tritt nun angesichts des schrecklichen Krieges in den Hintergrund. Leider ist die neoliberale Politik Selenskis – neben geostrategischen Interessen – eine weitere Erklärung dafür, warum der „Wertewesten“ für die Regierung in Kiew schon lange vor dem 24. Februar Sympathien hegte.