Vorgetäuschte Krankenstände und ein neuer Vorstoß gegen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

Neoliberale Simulanten

Glaubt man den Qualitätsmedien hierzulande, erreicht die Zahl der Krankmeldungen neue Höchststände. So fragte jüngst der „Spiegel“: „Ist Deutschland ein Paradies für Blaumacher?“ und in der zur Springer-Presse gehörenden „Welt“ durften „anonyme Arbeitnehmer“ berichten, wie sie sich krankschreiben ließen, ohne wirklich gesundheitliche Probleme gehabt zu haben.

Diese vermeintliche Entwicklung gefährde den Wirtschaftsstandort Deutschland und ruft die um ihre Profitraten fürchtenden Kapitalbesitzer auf den Plan. So klagte der Vorstandsvorsitzende von Mercedes-Benz, Ola Källenius, dem „Spiegel“ sein Leid. Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch sei wie im europäischen Ausland, habe das wirtschaftliche Folgen.

Der Düngemittel- und Salzhersteller K+S kappte seine Jahresprognose aufgrund von Produktionsengpässen und begründete das mit einer hohen Zahl kranker Beschäftigter. Der deutsche Werksleiter des Elektroautoherstellers Tesla machte bei krankgemeldeten Mitarbeitern sogar unangekündigte Hausbesuche und fand daran „nichts Ungewöhnliches“. Woher soll ein Manager eines in den USA beheimateten Konzerns auch wissen, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – auch für Arbeiter – keine milde Gabe, sondern das Ergebnis eines der längsten Streiks in der Geschichte der BRD ist?

In das Bild passt auch ein Interview des Vorstandsvorsitzenden des Allianz-Konzerns, Oliver Bäte, in der jüngsten Ausgabe der „WirtschaftsWoche“. Dieser hatte dort gefordert, Beschäftigten am ersten Tag einer Krankmeldung keinen Lohn mehr zu zahlen. Zuvor hatte bereits die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, vorgeschlagen, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen und damit den sogenannten Karenztag wieder einzuführen.

Wenn die Abrissbirne gegen den Sozialstaat in Stellung gebracht wird, darf auch Bernd Raffelhüschen nicht fehlen. Der Professor für Finanzwissenschaft und Lobbyist der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ forderte in der „Bild“ sogar, dass Arbeitnehmer drei Krankheitstage lang keinen Lohn beziehen sollen.

Während von interessierter Seite das Zerrbild von „einem Land der Blaumacher“ gezeichnet wird, kommt der aktuelle Gesundheitsreport des BKK-Dachverbands der Betriebskrankenkassen zu ganz anderen Ergebnissen. Demnach sank die Zahl der Krankschreibungen 2023 mit 22,4 Fehltagen pro Beschäftigten im Vergleich zum Vorjahr sogar leicht. Gleichzeitig wurde mit durchschnittlich 11,5 Arbeitsunfähigkeitstagen je Fall ein neues Zehnjahrestief erreicht.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht ebenfalls keinen erhöhten Krankenstand in Deutschland. Laut ihren Daten fehlten Beschäftigte 2023 im Schnitt 6,8 Prozent ihrer Arbeitszeit wegen einer Krankheit – so oft wie im Durchschnitt der Vor-Corona-Jahre 2015 bis 2019.

Eine ebenso einfache wie schlüssige Erklärung für die vermeintlich massiv steigende Zahl von Krankmeldungen lieferten jüngst Forscher des Leibniz-Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Sie gehen auf Basis einer aktuellen Studie davon aus, dass der Großteil des Anstiegs der Fehlzeiten auf eine bessere statistische Erfassung zurückzuführen ist.

Bis 2022 war es den Beschäftigten überlassen, ob sie die Krankmeldung nicht nur dem Arbeitgeber, sondern auch der Krankenkasse weiterreichen. Dies erfolgte oft nicht, sodass die Daten bei den Versicherungen nicht registriert wurden. Inzwischen erhalten die Krankenkassen automatisiert alle Krankmeldungen. Diese gehen so in die Statistiken der Kassen ein – was zu einem plötzlichen Anstieg der erfassten Fälle führt.

Ob diese Erkenntnis zur Folge hat, dass der Ruf nach Wiedereinführung von Karenztagen revidiert wird, darf bezweifelt werden. Schließlich geht es den Vertretern des Neoliberalismus nicht um Fakten, sondern um die Senkung von Lohn- und Lohnnebenkosten. Allein mit den Vorschlägen Bätes ließen sich nach dessen Angaben pro Jahr 40 Milliarden Euro einsparen.

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"Neoliberale Simulanten", UZ vom 17. Januar 2025



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