Der „kollektive Westen“ in moralischer Selbstüberhebung muss erleben, wie seine Wertebehauptungen im größeren Erdenrund als machtversessener Etikettenschwindel zurückgewiesen werden. Der Druck der US-geführten Westallianz, die Welt unipolar nach ihren Regeln auszurichten, erzeugt Gegendruck. Eine nach friedlichem, ökologisch fairem und sozial gerechtem Ausgleich strebende Völkergemeinschaft entschließt sich zu selbstbewussteren Schritten. Dabei übersieht man im Nichtwesten keineswegs, dass die von den Oberlehrerstaaten mantraartig hergebetete Moral in deren Grenzen wie in ihren Beziehungen untereinander schwindsüchtig ist. Vor allem zeigen die leidvollen Erfahrungen kolonial oder neokolonial invadierter Länder, dass alle Parolen der Westphalanx von Partnerschaft, Freiheit und Demokratie keinen Pfifferling wert sind, sobald geopolitische und wirtschaftliche Interessen bedroht scheinen. Im globalen Süden und anderswo gärt es, weil man die politischen und wirtschaftlichen Indoktrinationen, die gnadenlosen Boykotte und Embargos leid ist, die sich Washington, London oder Brüssel zur Disziplinierung unbotmäßiger Nationen ausdenken. Aktuell ziehen sich Länder in Lateinamerika, lange an Uncle Sams Gängelband, sowie Ex-Kolonien Frankreichs den Dorn imperialer Fremdbestimmung. Aus dem Fleisch, nicht aus der Erinnerung.
Derlei Eruptionen verursachen westlichen Aufschrei. Jüngst in Afrika: Ein Putsch in Niger war Coups in Mali, Burkina Faso und Guinea gefolgt. Emmanuel Macron zeterte am lautesten: Die „Epidemie von Putschen in der gesamten Sahelzone“ schwäche den Westen und verlange eine härtere Position, „weil wir sonst nirgendwo mehr sind“. Warum aber begrüßen die Sahel-Völker „ihre“ Putsche, wo doch Coups d’État gegen freigewählte Regierungen wie seinerzeit in Iran, Guatemala, Brasilien oder Chile das Stigma des Verrats tragen? Weil im Gegensatz zu den CIA-gelenkten reaktionären Umstürzen die Sahel-Erhebungen ein Ende der westlichen Ausplünderung zum Ziel haben. Der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn hat in der „Berliner Zeitung“ (4. August 2023) vorgetragen, um welche Missverhältnisse es geht: Frankreich hat keine Goldmine, verfügt aber über die viertgrößten Goldreserven der Welt. Seine ehemalige Kolonie Mali besitzt 0,0 Tonnen Gold, obwohl in mehreren Dutzend Minen pro Jahr 70 Tonnen abgebaut werden. Von den Einnahmen der 60 Tonnen, die in Burkina Faso zum großen Teil in Kinderarbeit geschürft werden, gehen 90 Prozent an multinationale Goldgräberkonzerne. Aus Niger kommt ein Drittel der französischen Uranimporte. Über Geheimverträge erhalten so Frankreichs Kernkraftwerke billigen Betriebsstoff. Die Kaskade solcher Beispiele wäre endlos. „Wie kann Afrika, das über so viel Reichtum verfügt, zum ärmsten Kontinent der Welt geworden sein?“, fragt Ibrahim Traoré, der 35-jährige Staatschef Burkina Fasos.
Die Ursachen werden bewusster und die Alternativen sind attraktiv. Im BRICS-Staatenbund haben fünf Schwellenländer die Weichen in eine gerechtere Zukunft gestellt. Auf dem Johannesburger Gipfel zunächst um sechs Staaten erweitert, ist die Allianz für weitere 40 Nationen relevant. Bereits heute repräsentiert BRICSplus knapp die Hälfte der Weltbevölkerung und erwirtschaftet 37 Prozent des globalen BIP. Das G7-Konstrukt, das sich von Zeit zu Zeit als Weltregierung aufbläst, verliert an Bedeutung. Das Seidenstraßenprojekt schafft vorteilhaftere internationale Handelsbeziehungen. Eine De-Dollarisierung in der Weltwirtschaft könnte der US-Währung ihr erpresserisches Potential nehmen.
Der Weg in die Multipolarität ist kein Linksruck. Aber er führt aus der Vormundschaft des „Wertewestens“, der den neokolonialen Dünkel als Kern seiner Herrschaftsfantasien nicht ablegt. Wer diesen Weg geht, verteidigt die Werte der Vereinten Nationen, damit die souveräne Gleichheit der Nationen triumphiert.