Philosophen“, die ihre Sprache zum Schutzwall gegen weniger Gebildete aufschichten, sollte zumindest die Arbeiterklasse ihren Titel aberkennen – wenn es schon niemand anderes tun möchte. Denn philosophisches Arbeiten lebt in aller Wissenschaft – selten mehr, meist weniger – und in aller Werktätigkeit. Was tut denn des Maurers Hirn, während er den mächtigen Mauersockel mit Bitumen bestreicht, auf dass kein winziger Wassertropfen, mit Frost gepaart, ihn sprengen möge? Und was ist die Wirkung von Bertolt Brechts Lyrik im Gedicht „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking“ anderes, als Hegels Sprünge ins philosophische Denken des allzu harten Materialismus zu setzen? Darum heißen die wahrhaft größten deutschsprachigen Philosophen: Albert Einstein und Brecht. Und Dieter Süverkrüp und Franz Josef Degenhardt sind zwei ihrer Schüler.
Denn Geschichten sind der Wissenschaft von der Geschichte kein angeklebter Bart, weshalb gesungene Flugblätter selten externe Wirkung verzeichnen. Sondern sie sind derselben Wirklichkeit geschuldet: Ästhetik spiegelt, wie es William Shakespeare schrieb, die Sonne im Wassertropfen. „Wie Denken und Sprechen im sinnvollen Wort“, fügte der russische Psychologe Lew Wygotski hinzu.
Kunst und Wissenschaft
Es lebt aus dem detaillierten Bild eine andere Sicht aufs Ganze. Wobei die Metapher dort ins Zentrum sinkt, wo sich die Wissenschaft abstrahierend zum Begriff hocharbeitet. Der Begriff bleibt aber ohne Vorstellung stumm; die Vorstellung ohne Begriff taub. Brecht sprach von der Kunst im wissenschaftlichen Zeitalter, nicht von der Ersetzung der Kunst durch die Wissenschaft. So, wie ein genialer Wissenschaftler – wie der Geigenspieler Einstein – immer auch ästhetische Vorstellungskraft beherrscht und die große Rednerin heute historisches Wissen. Damit Verstand ins Empfinden gelangt, der Materialismus in Fleisch und Blut und die Dialektik in die Fingerspitzen.
Und so führen unsere Feinde auch ihren Dreifrontenkrieg: gegen die Arbeit, gegen die Wissenschaft und gegen die Kunst. Und sie verzeichnen dabei todbringende Erfolge: Brecht wird so selten aufgeführt wie nie. Und die großen Liedermacher – allen voran Degenhardt und Süverkrüp – wurden unterm antideutschen, rosagrünlich schillernden Propagandamüll der Böhmermanns und Antilopen Gangs verschüttet.
Je bedeutender die revolutionären Erschaffer musikalisch-sprachlicher Bilder werden, desto mehr wächst aber auch ihre Ahnung von der Wehrlosigkeit isolierter Kunst und damit auch ihre Suche nach organisatorischem Halt. Wolf Biermann hat den Halt nach 1989 bei der NATO gefunden, schrumpelte vom Wolf zum Kettenhund. Degenhardt und Süverkrüp fanden ihn in den 1970er Jahren zusammen in der DKP.
Unterschiedliche Charaktere
Mit beiden bin ich aufgetreten, beide halfen mir als Zwanzigjährigem freundschaftlich über manche ungereimte Reimzeile hinweg, per Brief oder als ich bei ihnen wohnen durfte. Beide waren „altmodisch“ oder wie man heute abschätzt: „oldschool“. Viele andere Ähnlichkeiten zwischen beiden schienen nicht auf. Mit Degenhardt drehte sich das Gespräch oft anständig um Unanständiges, um pralle Weiber, Weine und Weisheiten: „Bei Mutter Mathilde, da riecht es gut/nach klarem Schnaps, Buletten und Futt …“.
Inklusive verschärftem Feixen über angepasst-ideologische Flachpfeifen im Liedermacher-Dress, über den „Wildledermantelmann“ oder über „Bodo, genannt der Rote“ – wobei er den thüringischen Ministerpräsidenten noch gar nicht kennen konnte. Wie oft gestanden wir uns auch die Hilflosigkeit auf unserer Barrikadenseite ein, der bestenfalls mit Feiern, Lied und Lyrik beizukommen war – und wenn auch nur beim Lagerfeuer, am „Tisch unter Pflaumenbäumen“.
Süverkrüp wirkte unnahbarer, kühl-analytischer und auf die größere Entfaltung von Musik- und Reimformalien bedacht. Er war unser bedeutendster Musiker – schon 1957 prämiert als bester deutscher Jazz-Gitarrist bei den „Feetwarmers“. Es ist darum die konsequente Schande, wie es unseren Feinden gelungen ist, ihn über alle sechs vergangenen Jahrzehnte von größerer Öffentlichkeit gewaltsam wegzuschweigen. Denn auf ihn trifft – wie auf keinen anderen deutschen Liedermacher – der Satz aus dem Düsseldorfer Vortrag von Hanns Eisler aus dem Jahr 1931 zu, „dass jeder neue Musikstil nicht aus einem ästhetisch neuen Standpunkt entsteht, also keine Material-Revolution darstellt, sondern die Änderung des Materials zwangsläufig bedingt wird durch eine historisch notwendige Änderung der Funktion der Musik in der Gesellschaft überhaupt“. Es ging Süverkrüp weniger um die Abbildung großer Charaktere in kleinen Balladen, sondern um die Spiegelung großer Zusammenhänge in kleinen Ereignissen – unter Zuhilfenahme nicht billiger, sondern teurer Polemik.
Mindestens so polemisch war auch Degenhardt. Dessen große Bedeutung verblieb aber formal mehr in der Tradition der Bänkellieder, etwa des französischen spätmittelalterlichen Dichters François Villon oder des Chansonniers Georges Brassens. „Karratsch“ (Degenhardts Nom de Guerre) bereicherte diese um Balladen krummer Gestalten aus der Innenarchitektur des Imperialismus – und dies schon mit seinem erfolgreichsten Lied „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, das die gesamte liberale Bourgeoisie Westdeutschlands damals verzückt hat. Als er aber dann mit „Horsti Schmandhoff“ und „Notar Bolamus“ von den Revivals alter Faschisten erzählte, begannen viele Fans von „Väterchen Franz“ zu frösteln. Seit er dann noch in „Wenn der Senator erzählt“ berichtete, wie dieser nach 1945 mit Unterstützung eines „alten Kumpels aus schwerer Zeit“ aus seinem „Wackersteiner Ländchen“ ein Ferienparadies machte und dieses dann noch um ein weiteres Hüttenwerk bereicherte, als er damit mehr Wissenschaft von der Kapitalverwertung in seine Balladen einließ, begann die mediale Resonanz einzufrieren. Auf Zero – wie längst gegen Süverkrüp.
Völlig unterschiedlich, aber gleichermaßen liebevoll, haben dann beide „ihre Kommunisten“ gezeichnet. Bei Süverkrüp: „Warum wird so einer Kommunist?“ und vor allem: „Die erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten“. Und bei Degenhardt: die „Natascha Speckenbach“ und vor allem „Rudi Schulte“. Süverkrüps Idealkommunist trug „Unterwanderstiefel“, vertilgte zum zweiten Frühstück ein blondes blauäugiges Kind und genoss abends – „weil er nicht einmal privat mehr völlig unverstellt sein“ konnte – Bachs H-Moll-Messe. Süverkrüp lieferte köstliche Persiflagen auf dumpfe Antikommunisten, Vorläufer von AfD, CDU und FDP. Degenhardts eher gebrochener Kommunist ist ein ruhrpöttischer Züchter von Tauben, mit denen er redet wie Don Camillo mit seinem Jesus am Kreuz und bei denen er sich darüber beschwert, wie er, ausgerechnet er, gerade als „feiger Revisionist“ beschimpft worden war.
Politisch eingreifende Künstler
Nach der militärischen Intervention der Sowjetunion in der Tschechoslowakei 1968 lieferten beide Widerworte gegen die auftrumpfenden Antikommunisten: „Die sagen ‚das goldene Prag‘ – und wenn die Gold sagen, meinen die Gold“ (Degenhardt). Bei Süverkrüp hieß das spöttisch: „Bleiben Se mir doch weg mit ihrem Scheiß-Vietnam – nach Prag!“
Im Gegensatz zu dem medienverwöhnten Biermann wollten Süverkrüp und Degenhardt nie arrogant und elitär auftreten. Diese beiden hochgebildeten Marxisten haben auch schlichtere Lieder nie verachtet. Süverkrüp stellte sich auf Burg Waldeck schützend vor seine grobschlächtigeren Agitpropgenossen und Degenhardt war zeitweise mit Freddy Quinn und Drafi Deutscher befreundet. Das liegt daran, dass man eben auch aus dümmerer Kunst kluge Schlussfolgerungen ziehen kann. So, wie minderwertige Kurzbögen eben trickreichere Pfeile und besondere Spannung brauchen. Triviale Unterhaltung, schlechte deutsche Schlager und „Schundromane“ mit kümmerlich-psychologischem Inneren müssen das mit magischeren Einzelelementen kompensieren. Ein gewisser Zauber, fand auch Degenhardt, liegt so auch in Roland Kaisers „Manchmal möchte ich schon mit dir diesen unerlaubten Weg zu Ende gehn“. Deswegen war auch für Degenhardt und Süverkrüp die Beschäftigung mit diesen Tricks hilfreich, weil sie – nun gepaart mit historischem Wissen und tieferem psychologischen Empfinden – in ihren Balladen schön entfalteter eingebaut werden konnten. Bei Süverkrüp entstand sein größter Kinder-Hit „Der Baggerführer Willibald“, bei Degenhardt waren es die deutschen Fassungen der Folksongs „Sacco und Vanzetti“ und „Grândola vila morena“.
Bei den Menschen in der Kneipe
Die beiden Liedermacher waren bedeutende Querdenker und Aufspürer der Klassenkämpfe unter der Oberfläche des gängigen Geschichtsunterrichts: Ja, über Deutschland liegt seit 1945 eine Volksfront in der Luft, die beide Liedermacher auch in ihre widerständigen Arbeiterpersönlichkeiten malten.
In Degenhardts Lied über die Kneipenwirtin „Mutter Mathilde“ hieß es: „Und mancher möchte mal gern bei ihr rein“. Und dann ihre Antwort „Komm mal rein! Das heißt, wenn du mitmachen willst“. So ist „Mutter Mathilde“ nicht nur lebensechter Gegenentwurf zum gratismutigen Gendern, sondern auch Ärgernis der Bosse von gegenüber – bedient sie doch besonders zärtlich jene, die „man verarbeitet hat zu Dividendenschrott in der Fabrik“. Als ihre Kneipe einer Firmenstraße weichen soll, hilft ein Sozialdemokrat. In Degenhardts Lied schicken die Bosse eine Nazischlägertruppe, die die Kneipe verwüsten. Was der Kneipenwirtin nur noch helfen konnte, war ein kleiner Streik. Und siehe da: „Die Werkschreinerei repariert kostenlos bei Mutter Mathilde das Inventar“.
Beim Streik um die Arbeitsplätze in der Stahlindustrie 1987 in Rheinhausen waren auch fast alle Kneipiers, Bäcker, Ärzte und Friseure – heute alles Betroffene von Corona-Lockdowns und Aufrüstung – auf der Duisburger Brücke mit dabei: Volksfront aus kaufkräftigem Eigeninteresse. Ich durfte das Solikonzert „AufRuhr“ der „Künstler für den Frieden“ vor 40.000 Kolleginnen in der Werkhalle mit Herbert Grönemeyer, Hannes Wader, Katja Ebstein und Klaus Lage mitorganisieren und moderieren. Campino von den „Toten Hosen“ urinierte aus Solidarität mit den um ihren Arbeitsplatz Kämpfenden auf die Bühne. Zehn Jahre später zog er hinter Joseph Fischer in den Jugoslawien-Feldzug der NATO und kürzlich – gedressed wie ein gockeliger Bräutigam – in Steinmeiers Empfangsvilla.
Soundtrack zum Klassenkampf
Die Volksfront mit proletarischem Kern – und „weil der Mensch ein Mensch ist“: die Arbeitereinheitsfront – hatte auch Süverkrüp in seinem „Phrix-Lied“ im Auge, welches er heiter untertitelte: „Für ein Schullesebuch gedacht“. Thema des Liedes sind die Stilllegung mehrerer Werke und der Kampf gegen die Entlassung von tausenden Arbeitern. Der Kampf wurde dokumentiert in der Dokumentation „Rote Fahnen sieht man besser“.
Für das Folk-Duo „Zupfgeigenhansel“ schrieb Süverkrüp den Titelsong „Miteinander“ ihres gleichnamigen Albums von 1982.
Im wesentlichsten Falle, da brauchen wir uns alle
auf diesem Erdenballe, damit er nicht zerknalle.
Schiebt alle Streitigkeiten für eine Weil’ auf Seiten
und lasst uns drüber streiten
dereinst in Friedenszeiten.
Oli, oli, ola, wir sind miteinander da
zusammen und gemeinsam
nicht einsam und alleinsam.
Oli, oli, ola, miteinander geht es ja
wenn wir zusammenkommen
kommen wir der Sache nah.
Befällt uns das Verzagen, so müssen wir’s verjagen
vielleicht zusammen singen, ein Fass zu Ende bringen.
Lasst uns zusammen juchzen und wenn es sein muss schluchzen.
Der Mensch braucht jede Menge
ganz menschliches Gedränge.
Gesungene Zukunft
Wenn unsere Feinde vom „Nationalsozialismus“ schwurbeln, käuen sie nur die blutige PR-Lüge der Faschisten wieder, die weder national noch sozialistisch waren. Gegen diese Geschichtsverdreher haben Süverkrüp und Degenhardt die demokratischen nationalen und sozialistischen Traditionen hervorgeschrieben. In seinem „Heimatlied“ für die „Zupfis“ erzählt Dieter Süverkrüp die Volksfront zurück und nach vorne:
Hier auf dem Brunnen sprach Thomas Müntzer,
Einst vor vielen hundert Jahren, als die Leut‘ aufrührig waren.
Wurden erschlagen, alle erschlagen.
Beim alten Stadttor – da wo heut‘ Mäc Donalds ist. (…)
Was kann draus werden, wenn das noch mehr wird?
Wenn sich alle nicht mehr schämen und „ihr Land“ beim Worte nehmen?
Und werden sagen: „Wir wollen’s wagen! Dies Land ist unser! Wir besetzen es instand!“
Noch liegt das gute Land wie hinter Fensterscheiben,
Doch zum Greifen nah – schon als ob es unsers wär.
Großartige Zeilen! Auch wenn Süverkrüp jede Erwähnung persönlicher Ausstrahlung beim demokratischen Aufstand aussparte.
Ganz anders Degenhardt. Bei ihm trägt der Zauber, der jedem revolutionären Anfang innewohnt, einen Namen mit persönlichem Charisma, das werktätiges Volk zu organisieren und zu einigen verhalf:
Joß Fritz, gejagt, gesucht, versteckt.
Und die ihn hören und berühren,
sind aufgerührt und angesteckt.
Mal ist er Mönch, mal Landsknecht, Bettler,
mal zieht ein Gaukler über Land,
und mal erkennen ihn Genossen
am Muttermal auf seiner Hand.
Das große Bündnis will er knüpfen
mit Ritter, Bürger, Bauer, Pfaff,
Plebejer, Bettler und Soldaten,
und immer warnt er vor der Hast.
Machen wir uns wieder mehr DEFA-Filmabende, lesen wir wieder mehr Brecht und hören wir wieder mehr Degenhardt und Süverkrüp. Ein Wiederaufleuchten der Farbe Rot in der Geschichte kann nur gelingen, wenn auch unsere alten Lieder von der Arbeit wieder neu erklingen.
Unter kurzelinks.de/degenhardt haben wir eine Playlist der im Text erwähnten Lieder zusammengestellt.
Liedersommer
Zum zehnten Mal lädt der Deutsche Freidenker-Verband zum Kulturseminar ein, das an die Tradition der Liedermacherbewegung auf Burg Waldeck anknüpft.
In diesem Jahr liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Beschäftigung mit dem Werk zweier „Urväter“ der Waldeck-Festivals: Franz Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp.
30. Juni bis 2. Juli, Schloss Auerstadt.
Weitere Informationen auf freidenker.org
Franz Josef Degenhardt: Mutter Mathilde
Vis-à-vis vom Tor der großen Fabrik
da gibt’s eine Kneipe, die gehört
Mutter Mathilde, sehr blond und dick.
Schon mancher hat bei ihr verkehrt,
weil bei Mutter Mathilde da riecht es gut
nach dem und dem und gar nicht so fein,
nach klarem Schnaps, nach Buletten und Futt,
und mancher möchte mal gern bei ihr rein,
weil bei Mutter Mathilde da spricht man viel
von dem und dem aus der großen Fabrik.
Gibt manchen Horcher, der mithorchen will,
doch dafür hat man einen sehr scharfen Blick
bei Mutter Mathilde.
Wer Betriebszeitungen verteilt, für die
da macht die Mutter sehr früh auf.
’n Ratschlag gibt’s da und Kaffee und Tee,
und manchmal gibt’s ’n Klaren drauf.
Und ab Neune kommen dann Paul der Prophet
und Kurt ohne Rente in zweiter Instanz,
Hans-Jürgen, der auf zwei Krücken geht,
und Opaken Thiel und der armlose Franz
und noch mancher, den man verarbeitet hat
zu Dividendenschrott in der Fabrik.
Nach Schichtschluss dann Bude voll, Quatschen und Skat,
und im Nebenzimmer gibt’s Politik
bei Mutter Mathilde.
Vis-à-vis Mutter Mathilde da stehn
in der Chefetage der Fabrik
häufig paar Herren am Fenster und sehn
auf Mutter Mathilde mit bösem Blick
und denken an Streik und an ähnlichen Schreck.
Und sagte einer der Herren dann hart:
„Also da drüben der Laden muss weg –
aber bitte, zunächst auf die feinere Art.“
Und das ist bei Mutter Mathilde geschehn:
Kamen zwei Männer mit Mäppchen ins Haus,
sagten ein Sümmchen mit sieben Stellen
und flogen natürlich achtkantig raus
bei Mutter Mathilde.
„Das bleibt nicht dabei“, sagt Paul der Prophet,
und Paul, der hat dafür ’n Blick.
Genau nach ’nem Monat im Anzeiger steht,
eine Straße kommt vis-à-vis der Fabrik.
Na, und Mutter Mathilde, die kennt seit paar Jahr
zum Beispiel einen Sozialdemokrat,
der aber noch nicht so verkommen war
und auch ein sehr wichtiger Mann bei der Stadt.
Und den nahm sie zur Brust und hat ihm erklärt,
na ja, von Bündnis und Politik,
und der Mann hat gestöhnt und hat auch geschwört:
„Kommt keine Straße vis-à-vis der Fabrik
bei Mutter Mathilde.“
Vis-à-vis von Mutter Mathilde war Wut
in der Chefetage der Fabrik.
Die Herren kennen aber natürlich sehr gut,
wenn’s so nicht geht, den letzten Trick.
Man telefonierte dem Nazitrupp,
der so was am Ende dann für die macht,
und der schlug dann Tische und Tresen kaputt
bei Mutter Mathilde nach Mitternacht.
Der Staatsanwalt hat die Schultern gezuckt,
ein bisschen aus Angst, ein bisschen aus Freud.
Mutter Mathilde hat’s in den Fingern gejuckt
und natürlich auch allen anderen Leut
bei Mutter Mathilde.
„Ruhig Blut bewahrt und nichts übereilt“,
sagt Rudi, und der hat dafür ’n Blick.
Und Flugblätter wurden gedruckt und verteilt,
und wieder war Wut in der großen Fabrik.
Und zogen paar Männer rüber zum Boss
und machten ihm und den Herren schnell klar:
Die Werkschreinerei repariert kostenlos
bei Mutter Mathilde das Inventar.
Noch heute erzählt man von jenem Fest,
von Mutter Mathildes Tresentanz,
vom Singen und Saufen und von dem Rest
und auch von dem Kopfstand des armlosen Franz
bei Mutter Mathilde.
Vis-à-vis vom Tor der großen Fabrik
da gibt’s eine Kneipe, die gehört
Mutter Mathilde, sehr blond und dick.
Schon mancher hat bei ihr verkehrt,
weil bei Mutter Mathilde da riecht es gut
nach dem und dem und gar nicht so fein,
nach klarem Schnaps, nach Buletten und Futt,
und mancher möchte mal gern bei ihr rein,
weil bei Mutter Mathilde spricht man auch viel
von dem und dem aus der großen Fabrik.
Komm mal rein! Das heißt, wenn du mitmachen willst,
denn im Nebenzimmer gibt’s Politik,
bei Mutter Mathilde.
Liedermacher
Thomas Rothschild, der eigenwillige Denker und gründlichste Chronist des künstlerischen Aufbruchs seit dem Burg-Waldeck-Festival 1964, legte 1980 im Fischer-Verlag sein Standardwerk „Liedermacher“ mit 23 Porträts vor, die noch heute von aktueller Bedeutung sind. Ich war zwar mächtig stolz darauf, dass er mich darin wegen meiner Ballade von der sozialdemokratischen „Oma Krug“ gelobt hatte. Gleichzeitig ärgerte ich mich aber darüber, dass Rothschild Süverkrüp in seinem Buch „eine infame Methode“ des „Ad-Absurdum-Führens“ politischer Gegner vorwarf – wegen wunderschöner kabarettistischer Wortspielereien wie „sektierischer Ernst“, „askäse-bleich“ oder „Um-Phallus“. Süverkrüp auf seine sprachlichen Collagen zu reduzieren, wäre falsch. Und so hat sich Rothschild letztlich doch vor dessen großem Chanson „Kirschen auf Sahne – Blutspur im Schnee“ verneigt. Weil er Geschmack hat und es eigentlich auch gar nicht anders geht!