Endlich fragt uns mal jemand! Das dachten sich vielleicht die 120 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger, die Mitte März zum Bürgerrat „Forum gegen Fakes – Gemeinsam für eine starke Demokratie“ eingeladen worden waren, um über Maßnahmen gegen „Desinformation“ zu diskutieren. Dabei handele es sich um „gezielte Falschinformation, die verbreitet wird, um Menschen zu manipulieren“, heißt es auf der Website des Bürgerrates. Eingeladen hatte die Bertelsmann Stiftung – seit Jahren eine feste Größe im Desinformationsgeschäft. Schließlich ist die Stiftung bekannt für ihre massive politische Einflussnahme und die gezielte Manipulation der öffentlichen Meinung, um eine neoliberale Agenda mit Privatisierungen im Gesundheitssektor und in der öffentlichen Daseinsvorsorge voranzutreiben. Man darf annehmen, dass diese Desinformationskampagnen nicht auf der Tagesordnung standen.
Ziel des Bürgerrates war es, Vorschläge zu erarbeiten, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) „unter anderem für die Erarbeitung einer neuen Strategie der Bundesregierung zum Umgang mit Desinformation nutzen“ will. Natürlich im „Spannungsfeld: Meinungsfreiheit oder schädigendes Verhalten“, wie es auf der Website heißt. Anschließend konnten diese Vorschläge in einer Online-Abstimmung bewertet werden. Abgestimmt wurde über Ideen wie: „Man sollte prüfen, ob die Verbreitung von Desinformation unter Wahrung der Meinungsfreiheit strafrechtlich verfolgt werden kann.“ Auch die „Schaffung einer zentralen Stelle zur Meldung, Prüfung und Richtigstellung“ gehörte zu den Vorschlägen. Zudem wurden technische Einschränkungen erwogen, unter anderem die Umprogrammierung von Social-Media-Algorithmen, um eine Verbreitung von „Desinformation“ zu verhindern.195.000 Menschen beteiligten sich bis zur vergangenen Woche an der Abstimmung – Zensurpolitik als Demokratiespektakel.
Dass es der Stiftung und dem Bundesinnenministerium dabei vor allem um eine Fortsetzung der Heimatfrontpolitik geht, wird nur dürftig verschleiert. Nicht erst seit der Corona-Pandemie und dem „russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine“ seien „Risse in unserer Gesellschaft“ zu spüren, heißt es auf der Homepage. „Vor allem lösen aktuell im Kontext des Krieges im Nahen Osten manipulierte Inhalte, falsche Behauptungen oder aus dem Kontext gerissene Bilder oder Videos große Verunsicherungen aus.“ Abweichungen von der „Staatsräson“ und den westlichen Narrativen im Ukraine-Krieg sollen also möglichst unterbunden werden.
Während noch fleißig über die Empfehlungen des Bürgerrats abgestimmt wurde, preschte die Bundesregierung mit der nächsten Idee vor. Am vergangenen Mittwoch verabschiedete das Kabinett einen Gesetzentwurf, der es ermöglichen soll, Menschen ohne deutschen Pass abzuschieben, die sich der „Terrorverherrlichung“ verdächtig machen. Ein falsches „Gefällt mir“ oder ein Post in den sozialen Medien soll künftig ausreichen, um ein „schwerwiegendes Ausweisungsinteresse“ zu begründen. „Wer keinen deutschen Pass hat und hier terroristische Taten verherrlicht, der muss – wo immer möglich – ausgewiesen und abgeschoben werden“, so Nancy Faeser. Nach den Diskussionen der vergangenen Monate braucht es nicht viel Fantasie, um sich die Auswirkungen auszumalen: Kritik am israelischen Völkermord in Gaza kann ebenso schnell als „Terrorverherrlichung“ gewertet werden wie jede Solidarisierung mit dem palästinensischen Widerstand.
Für Migranten in Deutschland würde diese Regelung den faktischen Ausschluss aus der politischen Debatte bedeuten, sofern sie nicht in überangepasstes Nachbeten der Regierungslinie verfallen wollen. Schließlich könnte jederzeit ein unzufriedener Arbeitgeber, ein genervter Behördenmitarbeiter oder ein rassistischer Nachbar zum Denunzianten werden. Wie „Netzpolitik.org“ berichtete, soll der vorgestellte Entwurf an ein bereits laufendes Gesetzgebungsverfahren angehängt werden, um ihn zügig im Bundestag zu beraten.