Nahtloser Übergang

Arnold Schölzel zur Kriegsstrategie des Westens

Am 13. Juni 2002 traten die USA vom ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) zurück. Er war 1972 zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geschlossen worden und sollte verhindern, dass eine der beiden Mächte sich durch unbegrenzten Ausbau eines Abwehrsystems gegen Interkontinentalraketen eine vermeintliche Unverwundbarkeit sicherte. Die Idee dahinter war, dass kein Land einen atomaren Erstschlag führen würde, wenn es sich gegen den unvermeidlichen Gegenschlag, den Zweitschlag, nicht ausreichend schützen kann. 2002 begründete der damalige US-Präsident George W. Bush den Austritt aus dem Vertrag damit, die terroristische Gefahr richte sich gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten ebenso wie gegen Russland. Laut einer Presseerklärung des Weißen Hauses vom 13. Dezember 2001, also kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001, hatte der russische Präsident Wladimir Putin zur sechsmonatigen, fristgemäßen Ankündigung Washingtons, den ABM-Vertrag zu verlassen, erklärt, das stelle keine Bedrohung der Sicherheit der Russischen Föderation dar.

Diese Auffassung der Angelegenheit dürfte sich gründlich geändert haben. Bush verband die ABM-Kündigung mit einer Intensivierung der Arbeit an der National Missile Defense (NMD), dem US-Raketenschild. Das richtete sich angeblich vor allem gegen den Iran und gegen Nordkorea, wobei Stützpunkte in Polen und Tschechien eine besondere Rolle spielen sollten. Allerdings besitzt der Iran bis heute keine Interkontinentalraketen, die DVKR seit 2017. Wer die Geschichte der Lügen in dieser Frage gegenüber Russland nachlesen will, findet Anschauungsmaterial in dem Buch der Publizistin Gabriele Krone-Schmaltz „Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“ (C. H. Beck). Es hat binnen eines Monats drei Auflagen.

NMD erlebte mit dem Amtsantritt von Barack Obama 2009 eine Veränderung. Obama verkündete am 17. September 2009 den Verzicht auf die Stützpunkte in Tschechien und Polen. Am folgenden Tag erläuterte US-Außenministerin Hillary Clinton, das sei nicht mit Abrüstung zu verwechseln: „Wir ‚stellen’ die Raketenabwehr nicht ‚zurück’. Wir verwirklichen die Raketenabwehr rascher, als es die Bush-Regierung plante. Und wir stellen ein umfangreicheres System auf.“

Das geht nun seiner Vollendung entgegen. Seit dem 13. Mai 2016 ist auf der rumänischen Basis Deveselu eine entsprechende Anlage einsatzbereit, im polnischen Redzikowo bei Slupsk im kommenden Jahr. In den vergangenen Wochen begann zugleich eine Propagandakampagne des Westens für eine Aufkündigung des INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces). Den hatten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichnet. Er verbietet die Produktion und Stationierung landgestützter Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern. Am 6. Dezember 2017 fragte z. B. die FAZ, ob eine neue Nachrüstungsdebatte bevorstehe. Am 9. Dezember stieg „Der Spiegel“ ein: US-Verteidigungsminister James Mattis habe vor etwa vier Wochen die Nukleare Plaunungsgruppe der NATO informiert, Washington verfüge über Nachweise, wonach Russland bodengestützte Cruise Missiles vertragswidrig entwickelt habe. Mattis habe den Verbündeten ein Ultimatum gestellt, bis Mitte 2018 gemeinsam zu reagieren, sonst „würden die USA im Alleingang entscheiden“. Allein die Bundesregierung erklärte, „ein schlagender Beweis fehle“. Sie hat laut „Spiegel“ eine NATO-Erklärung verhindert, in der ein angeblicher Bruch des INF-Vertrags durch Russland scharf verurteilt wurde.

Egal. Der US-Kongress hat im Haushaltsentwurf für 2018 eine Summe von 58 Millionen US-Dollar für die Entwicklung landgestützter Cruise Missiles eingeplant. Wenn das Ultimatum der USA für die NATO Mitte 2018 abläuft, dürfte die Basis in Redzikowo einsatzbereit sein. Der Übergang auf die neue Stufe der Totrüstungs- und Kriegsstrategie des Westens wäre nahtlos.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Nahtloser Übergang", UZ vom 15. Dezember 2017



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit