Befreiung und nichts gelernt?

Nachdenktage im Mai

Kolumne

Mein jüngstes Stöbern in der Chronik des vergangenen Jahrhunderts nahm sich zwei Maitage als kalendarische Klammern. Die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai 1945 und die Zerstörung der diplomatischen Vertretung Chinas am 7. Mai 1999 während des von der BRD mitgeflogenen NATO-Bombenkriegs gegen jugoslawische Städte. Seit dem 8. Mai 1985, an dem Richard von Weizsäcker seinen westdeutschen Landsleuten nach 40-jährigem Niederlagengejammer in einer bemerkenswerten Bundestagsrede den Sieg über die Hitlerei als Tag der Befreiung erklärte und zum Abstand von jeglichem Völkerhass aufrief, gab es einen Hoffnungsfunken, dass nun auch die Bundespolitik die vernünftigen Lehren aus dem von Nazi-Deutschland entfachten World-Desaster II gezogen hätte. Als sich aber eine dem Bellizismus zugeneigte deutsche Politikerriege um den Grünen Joseph Fischer in den antirussisch intendierten Überfall auf Jugoslawien einklinkte, war diese Hoffnung aufgebraucht. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich Deutschland an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligt. Zwar konnte die spätere Weigerung Bundeskanzler Schröders, mit der US-geführten „Koalition der Willigen“ in den Irak-Krieg zu marschieren, wie eine Rückkehr zur Besinnung erscheinen, aber sie folgte auch wahltaktischem Kalkül. Wo 80 Prozent der Deutschen eine Beteiligung am Irak-Krieg ablehnten, ließen sich die Wahlen 2002 mit jenem Plädoyer für Kriegsabsenz trefflich gewinnen. Allerdings waren auch die dennoch erfolgten deutschen Unterstützungsleistungen für den Krieg um Öl und geopolitische Dominanz vom Völkerrecht nicht gedeckt.

09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Nachdenktage im Mai - 8. Mai, 9. Mai, Tag der Befreiung vom Faschismus - Positionen
Hartmut König

Das Giftkraut des Bellizismus wucherte leider kräftig. Ein Vierteljahrhundert nach den Bomben auf Belgrad erleben wir heute, wie das machtsüchtige deutsche Streben nach Kriegsertüchtigung die entgegengesetzte Hoffnung so vieler Menschen auf Friedensfähigkeit skandalisiert. Eine in Sachen Aufrüstungsappell zum Lautsprecher der Regierung und der gleichdenkenden Opposition degenerierte bürgerliche Medienlandschaft hintertreibt den Anspruch der Bevölkerung auf freie, umfassende und unvoreingenommene Information in einer sich neu ordnenden und zunehmend von der US-Hegemonie lösenden Welt.

Der Globus im Wandel – noch andere Nachdenktage im Mai legen eine Spur zum Veränderungswillen der Völker. Am 8. Mai 1945 begann ein Aufstand der Algerier gegen die französische Kolonialherrschaft, der unter Einsatz von Panzern, Flugzeugen und Kriegsschiffen blutig niedergeschlagen wurde. In Syrien entbrannten Kämpfe um die nationale Selbstbestimmung, woraufhin die französische Artillerie Damaskus beschoss. Am 7. Mai 1954 fiel im Norden Vietnams die französische Festung Dien Bien Phu. Die vernichtende Niederlage des französischen Indochina-Kommandos war eine Ermutigung für Widerstandsbewegungen in anderen französisch kujonierten Ländern. Wo später die staatliche Souveränität gewährt werden musste, grassierten neokolonialistische Ausplünderung und geostrategische Umklammerung weiter. Und das lernunwillige Frankreich Macrons wundert sich heute, dass es nach Coups in Mali, Burkina Faso und Guinea politisch derangiert beiseite steht und fortan ausbeuterisch erlangte Uran- oder Goldimporte entbehren muss.

Am 31. Mai 1962 wurde der vom Obersten Gerichtshof Israels zum Tode verurteilte Adolf Eichmann gehängt. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer hatte maßgeblichen Anteil an der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“, der massenhaften Vernichtung jüdischen Lebens während der faschistischen Tyrannei. Der am 14. Mai 1948 gegründete israelische Staat hatte die moralische Unterstützung der humanistisch gesinnten Welt, als er die Verbrechen des Schreibtischmörders sühnte. Die wird Tel Avivs Kriegskabinett, das die jahrzehntelang schwelende Palästinafrage durch genozidale Verwüstungen in Gaza endgültig lösen will, heute nicht zuteil. Wachsende Sympathie genießt vielmehr die sich Netanjahu entgegenstellende, für einen sicheren, zukunftsfähigen Frieden demonstrierende israelische Bevölkerung. Wie sich doch Geschichte ins Heute webt! Nachdenktage im Mai.

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"Nachdenktage im Mai", UZ vom 3. Mai 2024



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