Wie die bürgerlichen Parteien sich für die Zeit nach Merkel aufstellen

Nach dem Modell Mutti

Von Olaf Matthes

An den Inhalten hat es nicht gelegen, dass die übernächtigten Sondierer am Sonntag nicht zur Verteilung der Ministersessel übergehen konnten. Die FDP sollte die schrittweise Abschaffung des „Solidaritätszuschlags“ als Erfolg verkaufen dürfen, selbst Seehofers Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen im Jahr konnte die Verhandlungen mit den Grünen überleben – leicht abgeschwächt und netter formuliert, „atmender Rahmen“ sollte sie nun heißen.

Nur: Mit netten Formulierungen kann Seehofer den Machtkampf in der CSU nicht gewinnen. Er wie seine Möchtegernerben brauchen starke Worte, um sich in Stellung zu bringen. Die CSU fürchtet, dass die AfD ihr so viele Wähler abziehen könnte, dass sie im kommenden Jahr die absolute Mehrheit im Landtag verliert. Mit markigen Sprüchen therapiert sie ihr schlechtes Wahlergebnis bei der Bundestagswahl.

Die Bildung einer Regierung ist nicht allein an der FDP gescheitert. Die SPD hätte sich von hundertjährigen Gewohnheiten verabschieden müssen, um eine Politik links von Merkel zu machen und braucht scharfe Oppositionssprüche, um sich vom Wahlergebnis zu erholen. Die Grünen sind bedrückt, weil sie vor vier Jahren Merkels Angebot für eine schwarz-grüne Koalition nicht angenommen haben, sie zeigen diesmal: Wir machen alles mit. Die CDU, betroffen davon, dass die Wähler Merkel weniger großartig finden als immer noch ziemlich viele in der Union, hatte wenig anzubieten. Der Kanzlerin blieb nichts übrig als sich als unermüdliche Verhandlerin zu präsentieren. Für Christian Lindners Karriereplanung war das nicht genug: Er hat im Hinterkopf, dass die FDP noch vor ein paar Jahren als Anhängsel Merkels erschien und daraufhin nicht einmal im Bundestag mitreden durfte.

Vor ein paar Jahren war sie die Übermutter. Die Erzählung: Deutschland ist der Hort der Glückseligen, Angela Merkel steuert den großdeutschen Dampfer so durch die chaotische Welt, dass es selbst in der dritten Klasse noch ganz gemütlich zugeht. In der Krise konnte sie die deutsche Exportwalze am Rollen halten. 2015 gab es sogar Linke, die plötzlich glaubten, mit der Willkommenskanzlerin stünde an der Spitze des deutschen Imperialismus eine Humanistin. Merkel verkleidete die rassistische Asylpolitik ihrer Regierung mit scheinheiligen Phrasen. Sie erlaubte Ehrenamtlichen und Kommunen, sich um Flüchtlinge zu kümmern, anstatt Stacheldraht um Flüchtlingsunterkünfte wickeln zu lassen.

Heute ist sie als Jamaika-Vermittlerin gescheitert, in der eigenen Partei und in der EU umstritten, von der AfD um Wählerstimmen gebracht. Das Modell Merkel funktionierte, weil sie die asoziale Politik der Schröder-Regierung zur „Schwarzen Null“ ausbauen und sich gleichzeitig mit dem Mindestlohn als Wohltäterin präsentieren konnte. Es funktionierte, weil sie reaktionäre Rollenbilder aufweichte und dafür sorgte, dass trotzdem alles beim Alten blieb. Es funktionierte, weil die Masse der Menschen glaubte, dass es schlimmer kommen könnte. Dieses Modell ist es, das die Rechten in der Union „Sozialdemokratisierung“ nennen und ihre noch rechteren Konkurrenten „links-grün versifft“. Dieses Modell steht unter Beschuss, weil es nicht mehr den Verhältnissen entspricht. Als die Flüchtlinge kamen, zeigte sich die Schwäche der Sozialsysteme, der Kampf um bezahlbare Wohnungen und der Druck auf die eigene soziale Stellung noch deutlicher als vorher, so dass heute nur wenige noch glauben, zu den Glückseligen zu gehören. Anstelle der Merkel-Gemütlichkeit hat das bürgerliche Lager eine neue Erzählung in Reserve: Die Angst vor dem sozialen Abstieg soll sich gegen Flüchtlinge richten. Die bürgerliche Politik sortiert sich neu, damit sie die Unzufriedenheit aktiver in rassistische Bahnen lenken kann.

Noch vor ein paar Monaten gab es eine andere Erzählung, welche die der Kanzlerin ersetzen sollte: Die Hoffnung auf eine rot-rot-grüne Alternative. Mit einer desolaten SPD, die gerne in der Opposition die sozialdemokratische Seele ihrer Unterbezirksvorsitzenden streicheln will? Mit den Grünen, deren Vorsitzender Özdemir „schon aus Patriotismus“ jedes Zugeständnis in den Sondierungen mitgetragen hat? Mit der Linkspartei, deren Politik in Regierungen sich kaum von den anderen Parteien unterscheidet? Der Parteienstreit seit der Bundestagswahl zeigt nur einmal mehr, dass das Spiel der Regierungsbildungen nicht unser Spiel ist und dass eine realistische Erzählung damit anfängt, dass diese Regierungen solche der herrschenden Klasse sind.

In den wichtigsten Fragen waren die Jamaika-Sondierer von Anfang an einig: In dem Papier, mit dem sie in der vergangenen Woche den Verhandlungsstand zusammenfassten, war klar, dass sie das Renteneintrittsalter „flexibler“ machen und die deutsche Großmacht- und Aufrüstungspolitik fortsetzen wollen. Und während sich die Presse Sorgen über die Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung und des Parlaments machte, konnte der Bundestag am Dienstag über die Verlängerung der Kriegseinsätze im Nahen Osten, in Afrika und Afghanistan beraten.

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"Nach dem Modell Mutti", UZ vom 24. November 2017



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