Tunesien: Eine demokratisch legitimierte Regierung, keine Aussicht auf Frieden

Nach dem Frühling

Von Christine Lohbauer

Die Terroranschläge des vergangenen Jahres haben die einst so gut besuchten Strände und Kulturstätten in Mondlandschaften verwandelt, die Tourismusindustrie – Haupteinnahmequelle Tunesiens – ist schwer angeschlagen. Bis Jahresende werden 70 Prozent aller Tourismusanlagen geschlossen sein, was die sozialen Spannungen im Land weiter verschärfen wird.

Vor einem Jahr wurde mit Béji Caïd Essebsi der erste demokratisch legitimierte Präsident gewählt, nun führt der 88-Jährige eine Koalition aus konservativ säkularen Kräften des alten Regimes und neu hinzugekommenen Clans vereint in der Partei Nida Tounés und der islamistischen Ennahdha mit der Muslimbruderschaft im Hintergrund.

In den vorangegangenen drei Jahren hatte die verfassungsgebende Versammlung mit Ach und Krach eine Verfassung zustande gebracht, die augenscheinlich niemanden so richtig überzeugte. Für die einen zu viel Islam für die anderen zu wenig, das war und ist bis heute der Streitpunkt. Ein Volksentscheid steht immer noch aus und somit gehört Tunesien zu den ganz wenigen Ländern der Erde, darunter bekanntlich auch die Bundesrepublik Deutschland, deren Verfassung nicht vom Volk bestätigt wurde.

Nun steht eine Verlängerung des seit 1995 bestehenden Abkommens mit der EU bevor. Die Zeitung „La Presse“ nannte es auf ihrer Titelseite „Bahnhof in den Abgrund“ – die Bedingungen des Abkommens werden unter anderem vom Internationalen Währungsfonds diktiert. Außerdem ist eine so genannte Finanzversöhnung in Planung – gemeint ist damit, dass die Kräfte, die sich unter dem alten Regime Ben Ali enorme Summen unrechtmäßig aneigneten, dafür nicht bestraft werden. Gleichzeitig findet in der Partei des Präsidenten, „Nidaa Tounes“, ein selbstmörderischer Kampf unter den verschiedenen Clans statt, der inzwischen dazu geführt hat, dass sich ein Drittel ihrer Parlamentarier abgespalten hat. Der islamistische Koalitionspartner ist dadurch zur stärksten Fraktion im Parlament geworden.

In dieser Situation wurde das „Nationale Dialog-Quartett“ mit dem diesjährigen Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Es besteht aus Gewerkschaftsdachverband, „Arbeitgeberverband“, Anwaltskammer und einer Menschenrechtsorganisation. Wie sich dieses preisgekrönte Quartett den Frieden im Lande vorstellt, bleibt eher eine Sache der Interpretation. Wenige Tage, nachdem die Auszeichnung verkündet wurde, machten sich die Preisträger auf nach Paris, um vom ehemaligen Kolonialherren in Person von Präsident Hollande medienwirksam vor dem Élysée-Palast empfangen zu werden.

Der Alltag geht trotzdem weiter, er ist beschwerlich bis gefährlich. Diverse Umfragen bescheinigen, dass die Tunesier ihr Leben als komplizierter empfinden als vor dem Volksaufstand, der dann den „Arabischen Frühling“ einleitete. Zwei Ereignisse aus dem Oktober spiegeln das wieder:

Nachdem Dschihadisten in ein Bergdorf nahe der algerischen Grenze eingedrungen waren – dort soll nach ihrem Wunsch ein Kalifat entstehen – nahmen sie zwei Schäfer gefangen und bezichtigten sie der Kollaboration mit den Behörden. Den einen entführten sie, den anderen folterten und ermordeten sie per Kopfschuss. Das folgende Gefecht mit der tunesischen Armee hinterlässt zwei tote und vier verletzte Soldaten. Der entführte Schäfer wird zwei Tage später tot aufgefunden. Der Etat für Sicherheit soll im kommenden Jahr auf 20 Prozent des gesamten Staatshaushaltes erhöht werden.

In der Hafenstadt Sfax stirbt wieder ein junger Straßenhändler, nachdem er sich drei Tage vorher aus Protest gegen die Beschlagnahme seiner Ware selbst in Brand gesetzt hatte. So ein Vorfall hatte im Dezember 2010 den Volksaufstand ausgelöst. Heute nimmt die Gesellschaft das lediglich mit Bedauern auf.

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"Nach dem Frühling", UZ vom 27. November 2015



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