Deutsche Unternehmen: „Ausbildungsunreif“ oder einfach „ausbildungsunwillig“?

Mythos Fachkräftemangel

Von Manfred Dietenberger

Ab August/Septembert 2015 beginnt für rund eine halbe Million Schulabgänger in Deutschland wieder der Start ins Berufsleben. Der Ausbildungsmarkt zeigt krisenhafte Symptome. Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze schrumpft, immer mehr Betriebe steigen aus der Ausbildung aus. Schon 2014 war die Ausbildungsplatzsituation alles andere als rosig. Damals sank die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge auf den tiefsten Stand seit der Angliederung Ostdeutschlands, nur noch rund jeder fünfte Betrieb bildete aus. 2014 gab es rund 810 000 „ausbildungsreife“ Jugendliche, die eine Lehrstelle suchten. Davon bekamen aber nur 288 000 einen Ausbildungsvertrag.

Für das Ausbildungsjahr 2015/16 prognostizierte ein Sprecher des Arbeitgeberverbands BDA „Die Chancen junger Menschen auf Ausbildung sind gut, da der Ausbildungsmarkt von Bewerbermangel geprägt ist“ und die Unternehmen hätten „weiterhin Probleme, ihren Fachkräftenachwuchs zu sichern.“ Doch die bundesrepublikanische Alltagswirklichkeit Ende Juli 2015 sieht anders aus: Allein die Zahl der offiziell unversorgten Bewerber und die Zahl derjenigen, die der BA angezeigt haben, dass sie noch eine Lehrstelle suchen (zusammen bundesweit 320 215), übersteigt die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen (163 276) um mehr als das Doppelte (Bundesinstitut für Berufsbildung).

Es stimmt aber auch, dass einzelne Branchen große Schwierigkeiten haben, Azubis zu bekommen. Dies gilt insbesondere für das Hotel- und Gaststättengewerbe. Gerade in dieser Branche aber findet man auch die schlechtesten Ausbildungsbedingungen. Fast jeder zweite Ausbildungsvertrag wird hier gelöst, Azubis verdienen hier besonders wenig Geld und fallen überdurchschnittlich oft durch Prüfungen.

In vielen anderen Berufen sieht es nicht besser aus: So brechen 41 Prozent der FachverkäuferInnen im Lebensmittelhandwerk ihre Ausbildung vorzeitig ab. Bei den angehenden KöchInnen sind es sogar über 48 Prozent. Man kann also sagen, je schlechter die Ausbildungsbedingungen, desto schwieriger ist es für die Betriebe, Auszubildende zu finden und zu halten. Die Schulabgänger stimmen eben mit den Füßen ab.

Statt an den schlechten Ausbildungsbedingungen etwas zu ändern, schieben die Unternehmen die Schuld den Ausbildungsplatzsuchenden zu. Arrogant und bar der Wahrheit behaupten die Unternehmerverbände, Jugendliche, die keine Lehrstelle fänden, fehle einfach die nötige Qualifikation und seien „ausbildungsunreif“. Tatsächlich handelt es sich aber bei den statistisch erfassbaren erfolglosen Ausbildungsstellenbewerbern ausnahmslos um sogenannte „ausbildungsreife“ Bewerber, deren Eignung zur Aufnahme einer Berufsausbildung von den Beratungs- und Vermittlungsdiensten der Arbeitsagentur geklärt worden ist.

Weder die viel bemühte „demografische Entwicklung“, noch der oft beschworene Fachkräftemangel hat etwas mit der „unbefriedigten Nachfrage“ nach Ausbildungsplätzen zu tun. Genauso daneben liegt die Behauptung der Deutschen Industrie- und Handelskammertage (DIHK), eine zunehmende „Überakademisierung“ – sprich zu viele Hochschulabsolventinnen und -absolventen – seien schuld daran, dass die Betriebe so wenig ausbilden.

Gerade hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) eine Analyse der bundesweiten IHK-Lehrstellenbörse (44 000 Ausbildungsplatzangebote) vorgelegt, die zeigt, Jugendliche mit Hauptschulabschluss haben bei der Ausbildungsplatzsuche schlechte Karten. Die meisten Betriebe verlangen die Mittlere Reife als Mindestvoraussetzung für eine Ausbildung. Hierzulande bilden nur noch sieben Prozent der Betriebe Hauptschüler aus.

Nach Angaben des DGB sind 85,4 Prozent der Ausbildungsplatzangebote bei den Mechatronikern, 47,1 Prozent bei den Zerspanungsmechanikern und 22,7 Prozent bei den Anlagenmechanikern nicht für Hauptschulabsolventen offen. Noch krasser sieht es im Groß- und Außenhandel und bei den Industriekaufleuten aus – hier liegt die Ausschlussquote bei über 90 Prozent, und auch bei den Bank- und Büroberufen sind die Chancen für Hauptschüler gleich null. Selbst die Hotel- und Gastronomiebranche, die seit Jahren besonders heftig über unbesetzte Ausbildungsplätze klagt, hält 60 Prozent der Ausbildungsplätze für Jugendliche mit Hauptschulabschluss von vornherein verschlossen. Hauptschülern stehen 40 Prozent der Ausbildungsplätze für Kellner nicht offen.

Mit ihren Propaganda-Mythen vom vermeintlichen Fachkräftemangel, mangelnder „Ausbildungsreife“ und dem demografischen Wandel wollen die Unternehmen vertuschen, dass sie schlicht und einfach nicht mehr in die Qualifikation von jungen Menschen investieren wollen. Warum sollten sie auch. Wird doch seit Jahren die Wirtschaft regelrecht dafür belohnt, dass sie die Jugendlichen nicht mehr ausbildet und Lohndumping mit staatlicher Unterstützung betreibt. Es sind die gleichen Mythen, mit denen sie die arbeitsmarktorientierte Selektion der Asylsuchenden rechtfertigen.

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"Mythos Fachkräftemangel", UZ vom 7. August 2015



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