Jürgen Peters, ehemaliger Vorsitzender der IG Metall, sprach auf der Konferenz „Frieden schaffen!“ Anfang Oktober in Frankfurt am Main zur Rolle der Gewerkschaften in der Friedensbewegung. In seiner Rede warb er für eine stärkere Beteiligung der Gewerkschaften bei der „Revitalisierung der Friedensbewegung“. Gerade angesichts der Hetze des „Mainstreams“ sollten sie ihre „Räume“ nutzen „um Orientierung zu geben, Meinungen zu bilden“. Wichtige Hinweise für den Gewerkschaftstag der IG Metall, der am 22. Oktober beginnt.
Wir dokumentieren die Rede leicht gekürzt.
Ich finde es bedauerlich, dass sich einige in den Gewerkschaften so zurückhaltend verhalten, was den grausamen Krieg in der Ukraine angeht.
Es ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich gerade die Gewerkschaften immer auch als ein Teil der Friedensbewegung verstanden haben. Weil sich die Gewerkschaften immer gegen Krieg und für Völkerverständigung ausgesprochen haben. Weil den Gewerkschaften und den Arbeitnehmern immer klar war: Krieg ist immer ein Verbrechen! Krieg bedeutet Tod – bedeutet Leid und Zerstörung.
Der Krieg in der Ukraine hat auch unser Leben verändert. Nicht nur im Bewusstsein, sondern auch auf der materiellen Seite. Ich will hier nicht weiter vertiefen, welche Belastungen auf die Haushalte zugekommen sind und welche Profite sich auf anderer Seite niedergeschlagen haben.
Deshalb: Für die Gewerkschaften – wie für andere auch – gilt der Satz von Willy Brandt: „Der Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts!“
Deshalb: Wir haben alles zu tun, um den Frieden wieder zu ermöglichen und alles zu unterlassen, was die kriegerische Auseinandersetzung weiter befeuert.
Wir haben aus zwei Weltkriegen und dem Faschismus die Lehren gezogen. Ich darf deshalb in diesem Zusammenhang auf die Positionen der Gewerkschaften verweisen. So setzt sich der DGB in seinem Grundsatzprogramm „dafür ein, dass die Menschenrechte universelle Geltung gewinnen. Soziale, ökonomische und ökologische Konflikte müssen auf zivilem Wege ohne militärische Gewalt gelöst werden. Die Vereinten Nationen müssen zur allgemein respektierten Weltorganisation für ein friedliches Zusammenleben der Völker, zur Achtung der Menschenrechte und der humanitären Hilfe weiterentwickelt werden.“
Und an anderer Stelle heißt es: „Der Zusammenbruch des Realsozialismus und die Auflösung von Warschauer Vertrag und Sowjetunion haben der Blockkonfrontation den Boden entzogen. Die Auflösung der bipolaren Struktur hat neue, historisch einmalige Möglichkeiten für Frieden und Abrüstung eröffnet. Diese optimal zu nutzen ist Aufgabe der Politik. Rüstungsexporte müssen dauerhaft reduziert, Rüstungsausgaben nachhaltig gesenkt werden. Wichtigstes Ziel muss sein, einen Zustand der gemeinsamen Sicherheit zu schaffen, der Krieg in Europa unmöglich macht. Dies geht über die Reduktion von Waffen und Streitkräften hinaus. Diese gemeinsame Sicherheit ist geeignet, den europäischen Nationen eine friedliche Zukunft zu sichern und den Völkern Osteuropas die begründete Aussicht auf bessere Lebensumstände zu eröffnen.“
Zum diesjährigen IG Metall-Gewerkschaftstag heißt es im Grundsatzantrag des Vorstands unter der Überschrift „Wo wir stehen – wohin wir gehen“: „Unsere friedenspolitischen Debatten über den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind von sehr unterschiedlichen Tönen geprägt. Deutlich wurden aber auch unsere geteilten Überzeugungen und Haltungen: Krieg und der Bruch völkerrechtlicher Vereinbarungen können und dürfen kein Mittel zur Konfliktbewältigung sein. Wir lehnen Krieg als Mittel der Politik entschieden ab.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Wir setzen uns mit Nachdruck für diplomatische Lösungen auf allen möglichen Ebenen und über alle Kanäle ein. Eine aktive Kriegsbeteiligung Deutschlands ist auszuschließen, die Eskalations- und Rüstungsspirale darf sich nicht weiterdrehen.“ Im Weiteren heißt es dann: „Eine Neuaufstellung und Revitalisierung der Friedensbewegung ist gleichwohl unerlässlich.“
In der Tat: Wir brauchen eine Revitalisierung der Friedensbewegung. Gerade, wo sich eine seltsame Art von Kriegsbegeisterung in Windeseile durchzusetzen scheint. Man kann eigentlich nur noch fassungslos sein über den kriegslüsternen Zustand einiger unserer Medienverantwortlichen und Politiker.
Gewiss: Wir gehen schweren Zeiten entgegen. Der Mainstream ist eindeutig. Die veröffentlichte Meinung kennt offensichtlich kein Pardon. Alles, was sich nicht auf Linie bewegt oder sich sogar in den Weg stellt, wird niedergemacht. Selbst jede vorsichtige Position gegen den Krieg wird als „prorussische“ Position markiert. Das Wort „Putinversteher“ ist da schnell als Totschlagargument zur Hand. Dazu hat Klaus von Dohnanyi völlig zu Recht einmal ausgeführt: Was heißt das eigentlich – „Putinversteher“? Natürlich muss man den anderen verstehen, wenn man mit ihm eine Verständigung herbeiführen will. Verstehen heißt nicht, Verständnis für den anderen zu haben.
Verkehrte Welt. Vieles läuft verkehrt!
Als zum Beispiel die ukrainische Armee im Mai 2014 mit Luftangriffen auf Slowjansk im Bezirk Donezk einen Krieg entfesselte, war in keinem deutschsprachigen Medium vom Krieg die Rede. Als in Odessa die Menschen, die gegen den verfassungswidrigen Regimewechsel in Kiew protestierten, ins Gewerkschaftshaus getrieben wurden, war es kaum eine Zeile wert. Auch nicht, als das Gebäude angezündet wurde und die, die sich aus dem brennenden Gebäude retten wollten, erschlagen wurden.
Es scheint zu stimmen, was viele bereits gesagt haben: Im Krieg stirbt die Wahrheit zuallererst. Da werden Sachverhalte ignoriert. Da werden Tatsachen verdreht oder wird gar das Gegenteil behauptet.
Wenn es zum Beispiel wahr ist, dass den „Russen“ versprochen wurde, keine NATO-Osterweiterung zu machen – dann wurde in relativ kurzer Zeit ein Versprechen gebrochen. Ein eklatanter Vertrauensbruch. Und das in einer Zeit, wo es gerade darum gehen musste, Vertrauen aufzubauen und zu vertiefen. Vertrauen in eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa.
Wenn es stimmt, dass ein Land in die NATO nur aufgenommen werden kann, wenn alle NATO-Mitglieder dem zustimmen – dann hat Deutschland die Chance verpasst, einen Konflikt zu entschärfen und damit möglicherweise allen Beteiligten viel Leid und Elend zu ersparen.
Wenn es stimmt, dass Ende März 2022 Wladimir Selenski Russland einen Vorschlag zur Beilegung dieses blutigen Konflikts gemacht hat und der Westen, insbesondere Boris Johnson, Selenski aufgefordert hat, das Angebot wieder zurückzunehmen, dann deutet das darauf hin: Dieser Konflikt, diese Auseinandersetzung hat andere Ursachen und Gründe. Es geht hier um Interessen – es geht um geopolitische Interessen des Westens.
Ja! Es geht nicht mehr um das, was wahr ist. Es geht nicht mehr um Tatsachen. Es geht nur noch um Ansichten über Tatsachen.
Ein kluger Kopf hat einmal über den derzeitigen Journalismus geurteilt und ihn verächtlich als „Meinungsjournalismus“ bezeichnet.
Ja! Der Mainstream-Journalismus hat sich mehr und mehr von seiner eigentlichen Aufgabe und Funktion entfernt. Da geht es nicht mehr um eine objektive Berichterstattung. Da geht es nicht mehr um Aufklärung von Sachverhalten. Da geht es nicht mehr um das Aufzeigen von möglichen unterschiedlichen Interessen.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Journalismus als vierte, unkontrollierte Gewalt in unserem Land zielstrebig „eigenständige“ andere Interessen verfolgt. Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass sich mittlerweile die „Bild“ quasi zum „Leitmedium“ der gesamten Presse entwickelt hat. Da wird skandalisiert. Da werden Personen – häufig Politiker – hochgeschrieben und ebenso heruntergemacht. Da werden oftmals Behauptungen in die Welt gesetzt, die ein bewusstes Klima erzeugen sollen. Das alles hat mit Pressefreiheit wenig zu tun. Zeigt aber Wirkung – sowohl in der Politik wie in der breiten Öffentlichkeit.
In diesem Zusammenhang: Wer hätte einmal gedacht, dass sich die „Grünen“, als Antikriegspartei gestartet, nunmehr als die größten Befürworter von Rüstungslieferungen an die Ukraine hervortun?
All das prägt! Prägt das Bewusstsein – prägt Meinungen. Auch und gerade in der breiten Öffentlichkeit. Auch bei unseren Mitgliedern. Kein Wunder, dass sich viele bedeckt halten, insbesondere wenn es um die Ursachen des Konflikts geht. Aber wer die Ursachen nicht kennt oder sich weigert, sie zur Kenntnis zu nehmen, wird kaum eine Lösung des Konflikts erreichen. Der wird wieder und wieder nur den alten Parolen hinterherlaufen.
Deshalb: Wie eine Meinung im Kopf entsteht – damit haben auch wir etwas zu tun. Wenn wir zu politischen Themen schweigen, wenn wir schweigen, wenn wissentlich die Unwahrheit gesagt wird, wenn wir uns wegducken, dann überlassen wir den anderen das Feld. Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn sich der Mainstream mehr und mehr in den Köpfen festsetzt.
Ich weiß, das ist nicht einfach in dieser Zeit. Ich weiß, dass es oftmals Mut braucht, um sich gegen den Mainstream zu stellen. Aber wir haben eben keine andere Wahl!
Die Delegierten des Gewerkschaftstags von ver.di haben sich der Debatte gestellt. Unabhängig von den Diskussionsergebnissen: eine ermutigende Entwicklung. Wir als Gewerkschaften sollten unsere Möglichkeiten, unsere Räume stärker nutzen: für eine Wiederbelebung der Debatte um Krieg und Frieden. Weil wir den Frieden nicht nur wollen, sondern weil wir den Frieden brauchen. Und weil wir wieder ein wirksamer Teil der Friedensbewegung sein sollten. Und wir haben solche Möglichkeiten. Wir haben solche „Räume“, um Orientierung zu geben, Meinungen zu bilden.
In den Gewerkschaften haben wir zum Beispiel gewählte Vorstände. Hier muss Flagge gezeigt werden. Sie müssen Beispiel geben.
Wir haben in der IG Metall mindestens drei Vorstandsmitglieder aus jedem Bezirk – sie sind gefordert als Multiplikatoren. Wir haben nicht nur zu warten, ob sich von unten etwas rührt.
Wir haben in den Bezirken zum Beispiel die Bezirksleitungen. Wir haben in den Bezirken die Bezirkskonferenzen. All diese „Räume“ können wir nutzen, um die Position der Gewerkschaften zu Krieg und Frieden wieder und wieder deutlich zu machen.
Und wir haben die örtlichen Gliederungen, unsere Geschäftsstellen (Ortsverwaltungen). Wir haben in diesen Geschäftsstellen ebenfalls gewählte Vorstände. Die Vorstandsmitglieder aus den Betrieben sind die tragenden Säulen unserer Betriebsvertretungen – also Personen mit einem „hohen Stellenwert“. Gerade auch sie sind in der Pflicht, aufzuklären, Orientierung zu geben, gegen tendenziöse Berichterstattung, gegen Halbwahrheiten oder gar Falschmeldungen.
Und wir haben die Möglichkeiten, die Delegiertenkonferenzen vor Ort zur Meinungsbildung zu nutzen, selbstverständlich auch jede Art von Versammlungen.
Warum nutzen wir nicht die Möglichkeit, in unsere Veranstaltungen auch Referenten aus Wissenschaft, Kultur und Politik einzuladen? Wir müssen nicht immer alles selbst machen, wenn andere Sachverständige es möglicherweise sogar besser können.
Wir haben also Möglichkeiten – wir müssen sie nutzen! Auch und gerade, weil wir sehen, wie die soziale Lage in unserem Land immer prekärer wird. Die ungeheuren Summen für die Rüstung auf der einen Seite führen unweigerlich zu weiteren Einsparungen auf der anderen Seite. Und die überwiegend unsinnigen und unwirksamen Sanktionen tun ein Weiteres. Die Preise steigen – bei der Energie in ungeahnte Höhen. Die Inflation insgesamt belastet die Haushalte. Und selbst wenn die Gewerkschaften es wollten: Ein solcher sozialer Aderlass ist durch die Tarifpolitik nie und nimmer auszugleichen.
Auch deshalb: Wir haben alles zu tun, um dem Frieden wieder eine Chance zu geben. Das Thema Frieden und Abrüstung muss überall mehr in den Vordergrund gerückt werden. Das gilt auch für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Das gilt auch für Schulen und Universitäten und andere Bildungseinrichtungen.
Tragen wir alle miteinander dazu bei, jede und jeder nach allen Möglichkeiten, dass wir wieder eine mächtige, unüberhörbare Friedensbewegung werden!