Manfred Grätz, General a. D. der NVA, warnt vor den Folgen der Kriegseskalation in der Ukraine

Mutig für den Frieden

Tilo Gräser

Generalleutnant a.  D. Manfred Grätz (Jahrgang 1935) war stellvertretender Verteidigungsminister der DDR und bis zum Ende der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR Ende September 1990 Chef des Hauptstabes. Im Januar dieses Jahres hat er sich mit einem offenen Brief zu Wort gemeldet und gegen die angekündigten bundesdeutschen Panzerlieferungen in die Ukraine protestiert. Schon in den Jahren zuvor hatte er gemeinsam mit anderen ehemaligen DDR-Militärs vor der zunehmenden Kriegsgefahr gewarnt.

UZ: Herr Grätz, Sie haben wie Generalmajor a.  D. Sebald Daum im Januar 2023 ihre Position zur deutschen Politik in Sachen Ukraine-Krieg geäußert. Sie kritisieren die bundesdeutschen Waffenlieferungen. Warum haben Sie das gemacht?

Manfred Grätz: Der offene Brief unter dem Titel „Deutsche Panzer gegen Russland – Aufruhr meines Gewissens“ erfolgte nicht zufällig. Nachdem schon mit Beginn der Spezialoperation der russischen Streitkräfte (im Folgenden Krieg genannt) ein wesentlicher Grundsatz deutscher Außenpolitik – keine Waffenlieferungen in Krisengebiete – außer Kraft gesetzt worden war, die Ukraine mit Waffen, Munition und anderem militärischen Kleingerät fleißig unterstützt wurde, war nunmehr der nächste Schritt erfolgt. Der Bundeskanzler hatte, nach längerem Zögern zunächst, dem Drängen der Politiker aus der Opposition und der eigenen Koalition stattgegeben und die Ausfuhr deutscher Panzer in die Ukraine, bestimmt für den Kampf gegen Russland, verkündet. Eine weitere Eskalationsstufe, nicht nur für mich! Das war der Anlass, meinen Protest, meine ganze Unzufriedenheit mit dieser Politik der deutschen Regierung zu offenbaren.

Dieses Ereignis war aber nur der Anlass. Einige Stichworte verdeutlichen, worum es mir geht:

Die unsägliche Gleichschaltung aller öffentlichen Medien, ihre russophobe Ausrichtung, wurde immer unerträglicher. Russland ist an allem schuld, Putin der Aggressor und Kriegsverbrecher – so tönte und las es sich überall und weckte Erinnerungen an Zeiten, in denen dem deutschen Volk schon einmal Ähnliches auf gleiche Weise eingebläut wurde.

Das gesamte Paket der NATO-Osterweiterung, all die Lügen und Verleumdungen, die sich darum ranken, einschließlich dessen, was geflissentlich verschwiegen wird, gehört dazu, ebenso wie die Vasallentreue zum transatlantischen Bündnis, zu den USA und zu allem, was aus dieser Richtung kommt.

Die plötzliche Hinwendung zur Ukraine als demokratisches Land, wo es „unsere westlichen Werte“ zu verteidigen gilt.

Die Hochstilisierung, nahezu Verherrlichung des Schauspielers Wladimir Selenski und seines ehemaligen Botschafters in Deutschland, Andrej Melnyk, in ihrer arroganten, fordernden Art zu „Volkshelden“ und so weiter.

All das zusammengenommen, dazu noch das überhebliche Auftreten der Außenministerin mit ihrer schon oft zitierten Forderung, Russland müsse „ruiniert“ werden, hatte meine Unzufriedenheit gesteigert und allmählich zu Frust und Wut werden lassen.

UZ: Sie erwähnen in dem Brief Ihre Erinnerungen als Kind an den Zweiten Weltkrieg. Woran erinnern Sie sich da am stärksten?

Manfred Grätz: Ich bin ein Kind des Krieges, das als Halbwüchsiger den Krieg nicht nur kennen, sondern auch hassen lernte und den Frieden herbeisehnte. Nicht nur nebenbei gesagt: Dieses kindliche Trauma war rund acht Jahre später, 1952, mitbestimmend für meinen Entschluss, Soldat zu werden – aus einer einzigen Motivation: Mitzuhelfen, den Frieden zu erhalten. Damals ahnte ich noch nicht, dass das einmal mein Beruf werden würde.

UZ: Welche Aufgabe hatten Sie in der NVA? Ein General bereitet sich und seine Soldaten auf den Krieg vor. Warum spricht jetzt mit Ihnen ein General gegen Krieg?

Manfred Grätz: Nahezu vier Jahrzehnte habe ich in den Bewaffneten Kräften der DDR gedient, zunächst in der Kasernierten Volkspolizei und ab 1956 in der Nationalen Volksarmee, jener deutschen Armee, die keinen Krieg geführt hat. Den Soldatenberuf habe ich von der Pike auf gelernt, habe in allen Kommandoebenen gedient, gelernt, Verantwortung zu tragen – vom Leutnant bis zum General, von der kleinsten militärischen Einheit bis zum Ministerium für Nationale Verteidigung. Und auf welcher Ebene auch immer – stets stand die Einsatzbereitschaft von Mensch und Technik an erster Stelle. Der Verfassungsauftrag verlangte von der NVA, jederzeit bereit zu sein, die DDR zuverlässig gegen alle Angriffe von außen zu schützen.

1913 Generalleutnant Graetz - Mutig für den Frieden - DDR, Manfred Grätz, NVA, Ukraine-Krieg - Hintergrund

Warum sollte ich dann heute nicht gegen einen Krieg, für den Frieden auftreten dürfen, als ein General für den Frieden? Ihre Frage kann zu Irrtümern führen, die ich hier ausräumen möchte: General und Krieg sind doch keine Synonyme. Natürlich hat ein General, hatten alle Vorgesetzten dafür zu sorgen, dass die ihnen anvertrauten Soldaten und Einheiten befähigt werden, im Falle eines möglichen Krieges erfolgreich zu bestehen. Folglich war die Ausbildung kriegsnah, gefechtsnah zu gestalten. Das schließt doch nicht aus, dass wir genau damit einen Krieg verhindern, den Frieden erhalten wollten und konnten. Das ist kein Widerspruch. Ich hatte mir im Verlauf meiner Dienstzeit, mit zunehmender Verantwortung immer deutlicher, das Credo zurechtgelegt und auch beherzigt, „alles dafür zu tun, um niemals im Ernstfall anwenden zu müssen, was ich als Soldat und Militär gelernt hatte“. Für meine Begriffe ist das ein Alleinstellungsmerkmal für den Soldatenberuf. Etwas später gesellte sich dann die folgende Erkenntnis hinzu: „Lasst uns mit überzeugender militärischer Präsenz einen möglichen Krieg verhindern.“ Mit einer solchen Herangehensweise bin ich und sind wir gut gefahren.

UZ: Der letzte DDR-Chef-Aufklärer, Generaloberst a.  D. Werner Großmann, hat 2017 in einem Interview gesagt: „Wenn Russland keine Atombomben hätte, wäre schon wieder Krieg.“ Nun gibt es den Krieg, mit der drohenden Gefahr eines Atomkriegs. Wie sehen Sie das?

Manfred Grätz: In weiten Kreisen der Bevölkerung geht die Angst um, die durch fortlaufende Waffenlieferungen an die Ukraine und deren ständige „Forderungen nach mehr“ noch geschürt wird. Ob sich darüber die uns Regierenden im Klaren sind, ist sehr, sehr fraglich.

Natürlich gibt es über den möglichen Einsatz von Atomwaffen und seine Wahrscheinlichkeit unterschiedliche, mitunter nur in Nuancen voneinander abweichende Meinungen.

Die zwei größten Atommächte haben großen Respekt voreinander und das Wissen darüber, dass dem Erstschlag „auf dem Fuße“ der adäquate Antwortschlag folgen würde. Die latente Gefahr besteht dennoch, ausgelöst wodurch auch immer. Technisches oder menschliches Versagen, Kurzschlussreaktionen, Zusammentreffen unglücklicher Umstände, Cyber-Aktivitäten – wer kann oder will so etwas ausschließen?

UZ: Hatten Sie Kontakt zu ehemaligen Bundeswehr-Offizieren, auch zu Bundeswehr-Generälen wie Harald Kujat oder Erich Vad? Die äußern sich ja ebenfalls öffentlich.

Manfred Grätz: Im Zusammenhang mit meiner Veröffentlichung hatte ich keinen Kontakt zu Bundeswehr-Offizieren oder -Generälen, auch nicht zu Militärs anderer westlicher Staaten. Das heißt nicht, dass ich nicht mir zur Verfügung stehende oder zur Kenntnis gelangte Veröffentlichungen aus diesem Personenkreis aufmerksam verfolgen würde – im Gegenteil.

UZ: Sie schreiben, dass die Regierenden weitgehend beratungsresistent seien und nicht auf ehemalige hochrangige Militärs hören würden. Warum ist das so?

Manfred Grätz: Ich halte es für sehr bedauerlich, dass sich die derzeitige Regierung in militärischen und militärpolitischen Fragen kaum von ehemaligen sachkundigen Militärs beraten oder zumindest unterrichten lässt. Zumindest ist das mein Eindruck, hervorgerufen dadurch, dass bestimmte kompetente Namen in den öffentlich-rechtlichen Medien immer seltener vorkommen – wenn überhaupt, dann in den Social-Media-Plattformen oder in ausländischen Militärzeitschriften. Ich hatte das in meiner Veröffentlichung als beratungsresistent bezeichnet. Ich bleibe auch dabei, sieht man doch auch in den einschlägigen politischen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender zu militärpolitischen Themen immer die gleichen parteipolitisch argumentierenden Personen und Experten.

Wenn man sogar noch sachkundige exakte Einschätzungen und Analysen des höchsten US-Militärs – des Chefs des Generalstabes der US-Armee, General Mark Milley – in der Versenkung verschwinden lässt, da seine Äußerungen über Perspektiven des Ausgangs des Krieges in der Ukraine nicht in die antirussischen Argumentationslinien passen – frei nach dem Motto: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ –, dann ist das doch ein deutliches Zeichen dafür, wie die Bevölkerung in die Irre geführt wird, wie untertänig wir unserem treuesten transatlantischen Partner folgen.

UZ: Die „Neue Zürcher Zeitung“ hat kürzlich mit Brigadegeneral a. D. Gert Gawellek einen ehemaligen NVA-Offizier vorgestellt, „der den Deutschen erklärt, wie der Russe kämpft“. Gegenüber der Zeitung erklärte er, dass Brutalität ein dunkler Teil der „russischen Seele“ sei, und bezichtigte russische Soldaten brutaler Kriegsverbrechen an Ukrainern. All das scheint Ihren Erfahrungen zu widersprechen. Was sagen Sie zu den Aussagen Gawelleks, der heute die Bundesregierung berät?

Manfred Grätz: Wiederholt hatte ich Gelegenheit, in der Sowjetunion zu studieren – an Militärakademien und zwei Höheren Akademischen Kursen. Nahezu sieben Jahre lebte ich in Moskau, lernte Land und Leute kennen, freundliche, offenherzige, überaus gastfreundliche Menschen. Freundschaften entstanden, auf dienstlicher wie auf privater Ebene, die zum Teil noch heute bestehen, sofern der Zahn der Zeit nicht schon das eine oder andere Leben ausgelöscht hat. Nicht selten kam es vor, dass man sowjetische Studienfreunde später in der einen oder anderen Garnison der Sowjetarmee bei uns in der DDR wiedertraf. Es waren immer sehr herzliche Begegnungen. Die Waffenbrüderschaft im Warschauer Vertrag war keine staatlich verordnete, wie fälschlicherweise behauptet wird. Sie war eine sehr herzliche, im praktischen Leben erprobte und bewährte.

Selbst wenn ich mich wiederhole: So etwas prägt einen Menschen, hinterlässt seine Spuren. Ich bekenne erneut: Ich liebe und achte dieses Land und seine Menschen. Ich verzichte auch gern auf eine Belehrung darüber, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion ist – das habe ich sehr wohl zur Kenntnis genommen. Aber die Menschen, deren Väter und Großväter schon ihr Vaterland erfolgreich gegen faschistische Eindringlinge verteidigten und sie bezwangen, damit uns und ganz Europa vom Hitlerfaschismus befreiten – diese Menschen sind noch da.

Manfred Graetz 06 2017 - Mutig für den Frieden - DDR, Manfred Grätz, NVA, Ukraine-Krieg - Hintergrund

Ich lege besonderen Wert darauf, gerade das noch einmal zu betonen – angesichts der von Ihnen zitierten Aussagen des Brigadegenerals a. D. Ich möchte mich dazu nicht weiter äußern. Aber es stößt wohl auf Verständnis, wenn ich dafür alles andere als Hochachtung empfinden kann – weder für die Vita selbst noch für die bekannt gewordenen Äußerungen.

UZ: Welche Reaktionen haben Sie auf Ihren Brief bekommen? In der Bundesrepublik wurde er weitgehend medial verschwiegen, international aber sehr stark beachtet. Wer heute für Frieden eintritt, wird ja als „Kriegsverherrlicher“ beschimpft.

Manfred Grätz: Die Reaktionen auf meinen Brief waren außerordentlich groß und vielfältig – sowohl aus dem In- als auch aus dem Ausland. Ehrlich gesagt: Ich hatte eine solche Vielfalt nicht erwartet. Es gab Zuschriften und Telefonate natürlich von Gleichgesinnten, von Bekannten, auch von mir Unbekannten, die einfach Respekt zollten. Es gab auch vereinzelte Zuschriften, die emotional unter die Haut gingen, so zum Beispiel ein Brief aus meinem Heimatdorf in der Nähe von Chemnitz, wo ich in den 1980er Jahren mehrere Jahre lang die Rede zur Jugendweihe hielt. Da schrieb mir ein damals 14-Jähriger: „Herr Grätz, wir sind mittlerweile erwachsen geworden. Wir haben damals schon über Sie gestaunt, einen General aus unserem Dorf. Und heute staune ich wieder, dass Sie sich trauen, solche Wahrheiten offen auszusprechen. Haben Sie keine Angst?“

Das ist eine Stimme aus dem Volke, eines einfachen Menschen. Sagt das nicht viel darüber aus, wie ein Großteil unserer Bevölkerung denkt, einfache Menschen auf dem Lande und in der Stadt? Für mich eine Aufforderung, auch künftig mit meiner Meinung nicht hinter dem Berge zu halten.

Die UZ berichtete in ihrer Ausgabe vom 10. Februar über den offenen Brief von Manfred Grätz. Gleichzeitig meldete sich auch Generalmajor a. D. Sebald Daum zu Wort. Beide Briefe haben wir online dokumentiert.

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"Mutig für den Frieden", UZ vom 12. Mai 2023



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