Das war der 31. Bundesweite Friedensratschlag in Kassel

Mut-Tankstelle

Der scheidende US-Präsident Joseph Biden erlaubt dem Regime in Kiew, Russland mit US-Raketen zu beschießen. Britannien und Frankreich ziehen nach und diskutieren schon über die Entsendung von Bodentruppen. In Deutschland wird wieder über „Taurus“-Lieferungen an die Ukraine debattiert – CDU und Grüne sind dafür, die SPD möchte sich nach der Wahl entscheiden. In dieser zugespitzten Situation traf sich der 31. Bundesweite Friedensratschlag am 30. November und 1. Dezember in Kassel. Es war der bislang dringendste überhaupt. Das unterstreicht auch der Besucherzulauf: Mit 500 Teilnehmern erreichte die Konferenz der Friedensbewegung einen Rekord.

Drei Appelle

Der Saal im Philipp-Scheidemann-Haus war bis auf den letzten Platz besetzt, als die UZ-Autorin und frühere Zweite Bevollmächtigte der IG Metall Waiblingen, Anne Rieger, die zweitägige Konferenz eröffnete. Sie stellte drei aktuelle Appelle vor, mit denen die Friedensbewegung in Deutschland arbeitet: Den Berliner Appell, der auch von der DKP unterstützt wird und im Mittelpunkt des 31. Friedensratschlags stand, den etwas älteren Aufruf „Gewerkschaften gegen Aufrüstung und Krieg“ und die von der SDAJ initiierte Petition „Nein zur Wehrpflicht!“.

Die Bundesregierung wolle die Führung in Europa übernehmen, schätzte Rieger ein, und fördere die Feindbilder Russland, Iran und China. Die Militarisierung der Gesellschaft gehe einher mit massivem Sozialabbau und harten Kämpfen um Daseinsvorsorge und Streikrecht. Die Friedensbewegung brauche eine analytische Bestandsaufnahme der Innen- und Außenpolitik: „Dafür treffen wir uns hier.“

Vier Vorträge bereiteten die anschließenden Diskussionen in den Workshops vor. Der Publizist Erhard Crome begann sein Referat mit einem Zitat von Bruno Kahl. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes hatte vor wenigen Tagen geäußert: „Wenn bei uns jetzt die große Friedenssehnsucht ausbricht, dann kann Russland seine Rüstung ausbauen, und dann hat Putin gewonnen.“ Crome konzentrierte sich auf die jüngste US-Präsidentschaftswahl und die Frage, was die zweite Präsidentschaft von Donald Trump für die Friedensbewegung bedeute. Alle großen Kriege der USA im 20. Jahrhundert seien von Demokraten begonnen und von Republikanern beendet worden. Crome vermutet, Trump ziele nicht auf einen heißen Krieg gegen China, sondern wolle den Handelskrieg intensivieren. Damit erntete der Publizist hörbaren Widerspruch aus dem Publikum.

Der EU-Abgeordnete Michael von der Schulenburg (BSW) wollte sein Publikum von der Wichtigkeit der UN-Charta überzeugen. Die sei ein „seltener Glücksmoment“ der Geschichte. Sie schreibe eine gewaltfreie Weltordnung vor, mache keinen Unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen und verpflichte zu Verhandlungen in Konfliktfällen. Der Krieg in der Ukraine sei spätestens seit April 2022, nach dem Scheitern unterschriftsreifer Friedensabkommen, „unsere Schuld. Wir hätten den Krieg beenden können.“ Den Ukraine-Krieg sieht von der Schulenburg als „wirkliche Zeitenwende“, denn: „Mit diesem Krieg wird die Vorherrschaft des Westens gebrochen sein.“

Klare Worte

Mit tosendem Applaus empfing der Friedensratschlag Wieland Hoban, Vorsitzender des Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Sein Thema: „Israels Kriegsführung und deutsche Staatsräson“. Hoban unterstrich mehrfach, wie wichtig es sei, Israels Vorgehen als Genozid zu benennen. Die Absicht der israelischen Regierung, die Palästinenser zu vernichten, belegte er anhand von Äußerungen von Mitgliedern der Regierung des kolonialen Apartheid-Staates. Der alltäglich gewordene Begriff der „Staatsräson“ stamme aus vordemokratischen Jahrhunderten. Die BRD leiste fortgesetzt Beihilfe zum Völkermord. Hoban kritisierte auch die Gleichsetzung von Juden mit Israel. Die sei immer antisemitisch und leider auch weit verbreitet bei Menschen, die Israels Vorgehen ablehnten. Der Begriff des Antisemitismus stehe heute im Dienste rechter Politik. „Für uns ist das besonders abstoßend.“ Die Sache Palästinas sei in allen Bereichen zu verteidigen, forderte Hoban. Das Publikum stimmte zu, mit Standing Ovations.

Der Jurist Rolf Gössner zeichnete die innere Militarisierung und die damit einhergehende Repression in Deutschland nach. Die BRD werde zur Drehscheibe der NATO und habe ihren Blick starr gen Osten gerichtet. Die Regierung kämpfe um Köpfe, etwa mit der neuen Wehrpflicht oder dem Veteranentag. Die „zivil-militärische Verteidigung“ werde intensiviert, etwa mit gemeinsamen Übungen von Bundeswehr und Polizei in Sachsen-Anhalt. Gössner ging auf das bayerische Bundeswehrgesetz ein, das im Juli verabschiedet worden ist. Das darin enthaltene Zivilklauselverbot und die Kooperationspflicht von Schulen und Universitäten mit der Bundeswehr seien unvereinbar mit der vom Grundgesetz geforderten Erziehung zum Frieden.

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Von links nach rechts: Rolf Gössner, Michael von der Schulenburg, Anne Rieger und Wieland Hoban (Foto: Thomas Brenner)

Der erste Workshop-Block bot Gelegenheit, viele der im Eröffnungsplenum aufgeworfenen Fragestellungen vertieft zu analysieren und diskutieren. So sprachen Erhard Crome und Michael von der Schulenburg über die „Relevanz internationaler Entwicklungen auf deutsche und EU-Politik“. Rolf Gössner und Horst Schmitthenner, ehemaliges Vorstandsmitglied der IG Metall, erörterten die innenpolitischen Auswirkungen des Kriegskurses der Bundesregierung. Die Arabistin Karin Kulow und Wieland Hoban stellten die globalen Auswirkungen des Krieges in Westasien dar. Reiner Braun präsentierte das Positionspapier „Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts“. Gut besucht war auch der Workshop „Afrika im Zentrum geopolitischer Entwicklungen“, in dem Boniface Mabanza (Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika), Frauke Banse (Universität Kassel) und Samahir Elkurdi (Studentin an der Universität Kassel) über aktuelle geopolitische Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent informierten.

Der zweite Workshop-Block des Samstags führte etwas weiter weg von den unmittelbar drängenden Fragen der Friedensbewegung. Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde, forderte ein Bündnis zwischen Umwelt- und Friedensbewegung wie die Anti-Atom-Bewegung der 1980er Jahre. Die Klimakrise erhöhe die Kriegsgefahr drastisch, die Friedensbewegung müsse das publik machen. Die frühere Leiterin des Moskauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Kerstin Kaiser, sprach mit Hermann Kopp (Bundesausschuss Friedensratschlag) über den ökonomischen Entwicklungsstand Russlands. Der Autor Werner Rügemer beleuchtete die Rolle von BlackRock beim geplanten Wiederaufbau der Ukraine, und Robert Kohl Parra („amerika21“) informierte über aktuelle Entwicklungen in Lateinamerika.

Aggressive NATO

Ein Highlight des ersten Tages war der detailreiche Vortrag des Geographieprofessors Jürgen Scheffran im Plenum zur Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der BRD. Die unterscheide sich von früheren, vergleichbaren Ereignissen wie der Kuba-Krise 1962 oder dem NATO-Doppelbeschluss der 1980er Jahre in einem wesentlichen Punkt: Früher hätten beide Seiten realisiert, dass die Instabilität wachse durch Mittelstreckenraketen, die den Feind in kurzer Zeit erreichen können. Heute drücken die USA ihren Willen einseitig durch. Die steigenden Rüstungsausgaben der NATO-Staaten ergäben keinen Sinn, weil die NATO Russland heute schon militärisch überlegen sei, teils mehrfach. Die Aggressivität der NATO resultiere daraus, dass die westliche Hegemonie an ihre Grenzen gestoßen sei. Scheffran erläuterte die Counterforce-Strategie der USA, die darauf abzielt, alle nuklearen Abschussanlagen Russlands und Chinas mit konventionellen Waffen zu zerstören. Die Raketenstationierung sei Teil dieses Konzepts, und die Kriege in der Ukraine sowie im Nahen Osten sehe er als Übungen dafür.

Erfahrungsaustausch

Am Sonntag, dem zweiten Tag des Friedensratschlags, steht traditionell der Erfahrungsaustausch auf der Tagesordnung. Den Aufschlag machte Hans-Jürgen Urban, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Urban sieht die aktuellen Kriege als Ausdrücke der Konflikte „großer Mächte“, die um die Neuaufteilung der Welt kämpften. Für die Äquidistanz, die aus seinen Worten sprach, musste Urban viel Kritik in der Diskussion einstecken. Er fasste die aktuelle Beschlusslage der IG Metall zur Friedensfrage zusammen und verwies auf den Berliner Appell, den er unterschrieben habe. Werner Rügemer kritisierte in der anschließenden Diskussion, „Raus aus der NATO!“ müsse die wesentliche Forderung sein. Urban ergänzte, politische Kämpfe von Gewerkschaften müssten auf starker Verankerung in den Betrieben fußen. „Wir sind am Beginn einer Periode zugespitzter Klassenauseinandersetzungen.“

In die Gewerkschaften

Das Thema „Gewerkschaftliche Friedensarbeit“ konnten interessierte Besucher im Workshop von Anne Rieger und Gewerkschaftssekretärin Ulrike Eifler (IG Metall) vertiefen. 60 Teilnehmer nutzten die Möglichkeit, „so viele wie noch nie“, freute Rieger sich. Die Diskussionsbeiträge zeigten: Es lohnt sich, im Betrieb Position gegen den Kriegskurs zu beziehen. „Wir müssen in unseren Gewerkschaften darüber reden, was Krieg für die Arbeitswelt bedeutet“, konkretisierte Eifler. Friedensforderungen seien „gar nicht immer so umstritten“, sie treffe eher auf Verunsicherung. Riegers Vorschlag, im Bundestagswahlkampf mit dem Berliner Appell und eigenen Flugblättern Wahlkampfveranstaltungen von Parteien zu besuchen, wurde von fast allen Diskutanten ausdrücklich unterstützt. Auch der Arbeitskampf bei VW und die anstehende Tarifrunde im Öffentlichen Dienst böten gute Gelegenheiten, den Zusammenhang zwischen Kriegskurs und Sozialabbau zu beleuchten.

Gleich zwei Workshops beschäftigten sich mit Widerstand der Jugend gegen die Militarisierung. Ronja von der SDAJ leitete einen zur „Wiedereinführung der Wehrpflicht“, Werner Ruf und Jonathan Beullens den zweiten zu „Jugend und Universitäten gegen Militarisierung“. Der Workshop von Norbert Birkwald und Ulrich Schneider setzte sich mit „Rechtsentwicklung und Kampf gegen rechts“ auseinander. Marion Küpker und Ingrid Pfanzelt blickten zurück auf die Verwerfungen, die die Corona-Politik der Bundesregierung in der Friedensbewegung ausgelöst hatte. Über Aktionen an US-Militärstützpunkten und gegen Militärmanöver debattierten Karl-Heinz Peil (Bundesausschuss Friedensratschlag) und Torsten Schleip.

Mutig gegen Kriegspropaganda

Vor der Schlussrunde sprach die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (BSW). Deutschland werde immer mehr zum Militärstaat, „als wären wir in einer Zeitmaschine Richtung Preußen“. Dagdelen vermutet, Soldaten des „Kommandos Spezialkräfte“ (KSK) der Bundeswehr seien bereits in der Ukraine im Einsatz. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) fordere den Einsatz deutscher Bodentruppen dort. Der Kriegspropaganda müsse man sich mutig entgegenstellen. Die Friedensbewegung müsse eine klare Kampagne gegen „Taurus“-Lieferungen fahren und den Wirtschaftskrieg gegen Russland und China als sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung entlarven.

Die „Konferenz hat uns bestärkt“, schloss Anne Rieger. „Die Kriegsgefahr ist vom Menschen gemacht, deswegen können wir sie auch stoppen.“

Der diesjährige Bundesweite Friedensratschlag hat gezeigt: Die Lage spitzt sich zu, und die Friedensbewegung rückt zusammen. Die Diskussionen verliefen weniger kontrovers als in den Vorjahren. Zwar gibt es immer noch Dissens etwa in der Frage, wer für den Ukraine-Krieg verantwortlich ist. In Sachen Handlungsorientierung allerdings besteht weitgehender Konsens: Stopp der Waffenlieferungen, sofortige Friedensverhandlungen, keine Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland – diese Forderungen dürften wohl alle Konferenzteilnehmer unterschreiben. Treffen wie diese Konferenz, sagte eine Teilnehmerin, seien „Mut-Tankstellen“.

Die Abschlusserklärung des 31. Bundesweiten Friedensratschlags in Kassel und weitere Infos zur Konferenz gibt es auf der Website des Bundesausschusses Friedensratschlag.

Aktionstage 2024 und 2025 der Friedensbewegung
7. Dezember: Bundesweiter Aktionstag Berliner Appell
12. Januar: Zentrale Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, Berlin
22. Januar: Jahrestag des Atomwaffenverbotsvertrags
27. Januar: 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
15. Februar: Demonstration gegen die „Sicherheitskonferenz“ in München; Aktionstag Berliner Appell
16. Februar: Veranstaltung „Frieden wählen“ in Frankfurt am Main
23. Februar: Bundestagswahl
8. März: Internationaler Frauentag
14. März: Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen
29. März: Bundesweite Demonstration gegen Einsatzzentrale in Wiesbaden
11. April: 80. Jahrestag der Selbstbefreiung Buchenwalds
18. bis 21. April: Ostermärsche
30. April bis 4. Mai: Kirchentag in Hannover
1. Mai: Tag der Arbeit
8. Mai: 80. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus

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"Mut-Tankstelle", UZ vom 6. Dezember 2024



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