Die Corona-Pandemie hat in Indien besonders brutale Konsequenzen. Laut Johns-Hopkins-Universität war die Zahl der täglichen Neuinfektionen in dem 1,36-Milliarden-Staat zeitweise auf über 400.000 gestiegen. Die Zahl der an Covid-19 Gestorbenen hatte den Wert von 4.000 pro Tag überschritten. Die Dunkelziffer soll erheblich sein und den offiziellen Wert um ein Mehrfaches überschreiten, da die Testkapazitäten auf dem Land und in den Slum-Bereichen völlig unzulänglich sind. Der sozialökonomische und gesellschaftspolitische Unterschied zur Volksrepublik China könnte sich nicht deutlicher zeigen. Insbesondere die Staaten, in denen die neoliberale Offensive mit ihren Privatisierungen und sozialen Demontagen am weitesten vorangeschritten ist, sind am schwersten von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. In der 22-Millionen-Stadt Neu-Delhi waren im April 2021 gerade einmal 511 Intensivbetten und 307 Betten mit Beatmungsgeräten verfügbar. Die Situation ist katastrophal und die Szenen in den überfüllten Krankenhäusern sind herzzerreißend. Die hindunationalistische Modi-Regierung kommt innenpolitisch mehr und mehr unter Druck.
Seit April 2021 hat China mehr als 5.000 Beatmungsgeräte, 21.500 Sauerstoffgeneratoren, 21,5 Millionen Masken und 3.800 Tonnen pharmazeutische Produkte nach Indien geliefert. In chinesischen Firmen werden Überstunden geleistet, um so schnell wie möglich weitere 40.000 Sauerstoffgeneratoren in den Subkontinent liefern und den dramatischen Engpass mit medizinischem Sauerstoff beim südlichen Nachbarn beseitigen zu können. Die Regierung der Volksrepublik demonstriert, dass sie sich durch die Taktierereien der Modi-Nationalisten nicht in eine antihumane Konfrontationspolitik drängen lässt. Die russische und chinesische „Impfstoffdiplomatie“ in den Staaten der „Dritten Welt“ hat die Hilfeleistung des „Westens“ deutlich in den Schatten gestellt.
Für die Anti-China-Strategie Washingtons ist Indien immer stärker zu einer Art Eckpfeiler geworden. Es geht den US-Geostrategen seit Obamas pazifischer Wende darum, die Volksrepublik einzukreisen und zu isolieren, ihre ökonomische Entwicklung abzubremsen und zurückzudrängen. Seither versucht die US-Diplomatie Indien mit Japan und Australien zu einem antichinesischen Block, dem QUAD, zusammenzuschmieden. Nicht völlig ohne Erfolg. Die Modi-Regierung hat am Himalaja den längst überwunden geglaubten Grenzkonflikt neu losgetreten und damit eine nationalistische Welle provoziert. Modi-Indien hatte sich geweigert, sich an der Belt-and-Road-Initiative zu beteiligen und war auch dem asiatisch-pazifischen RCEP-Abkommen, dem Handelsabkommen der größten Wachstumsmärkte weltweit, nicht beigetreten. Das Land hat damit große Wirtschafts- und Entwicklungsmöglichkeiten verschenkt und sich stattdessen an US- und QUAD-Manövern beteiligt. US-Kriegsminister Lloyd Austin hatte Delhi am 19. März, demonstrativ vor dem US-chinesischen Treffen in Anchorage, besucht. Delhi erhofft sich von seiner militärischen Vasallenrolle einen größeren Technologietransfer aus dem Imperium und bessere Handelsabkommen mit Washington. Danach sieht es momentan allerdings nicht aus. Die Biden-Regierung zeigt sich hier deutlich reservierter als Donald Trump. Die Basis für Derartiges wäre allerdings auch eine dauerhafte harte Anti-China-Haltung Indiens.
Solch eine konfrontative Position zu halten ist für Indien – wie auch für die anderen QUAD-Staaten – nicht leicht. Die Modi-Regierung hatte infolge des Himalaya-Konflikts zu einem Boykott chinesischer Waren aufgerufen. Faktisch war China 2020 aber trotzdem zum größten Handelspartner Indiens vor den USA aufgestiegen. China hatte die Krise rasch überwunden und produziert wieder hohe Wachstumszahlen. Indien exportierte Waren im Wert von 15,3 Mrd. US-Dollar nach China. Gleichzeitig importierte das Land Waren im Wert von 45,4 Mrd. Dollar aus China. Beide Staaten sind ökonomisch stark verflochten, wobei China mit einem für 2021 geschätzten Bruttoinlandsprodukt von 16,6 Billionen USD gegenüber Indien mit 3,04 Bio. USD die deutlich überlegene Industriemacht darstellt. China ist nicht auf den Indienhandel angewiesen, Indien auf den chinesischen Markt aber schon. Die Anti-China-Politik Modis richtet sich massiv gegen die indischen Interessen – insbesondere vor dem Hintergrund des Corona-Desasters.
In diesem Kontext kommt der Asienreise des russischen Außenministers Sergej Lawrow erhebliche Bedeutung zu. Russland hat seit Jahrzehnten gute Beziehungen zu Indien und betreibt eine enge militärische und rüstungstechnologische Partnerschaft mit dem Subkontinent. Indien will trotz des harten Widerstands Washingtons das elaborierte russische Luftverteidigungssystem S-400 kaufen, das Land hat mit Russland die BrahMos PJ-10, die schnellste Hochgeschwindigkeits-Cruise-Missile der Welt, entwickelt. Vor dem Hintergrund der russisch-chinesischen strategischen Partnerschaft kann Russland eine wichtige deeskalierende und moderierende Rolle einnehmen.