Die DDR-Hymne: Drei Strophen – ein Refrain

Musik kann weh tun

Von Ralf Hohmann

Die drei Strophen der DDR

Die drei Strophen der DDR

Der Einheitskanzler saß in der ersten Reihe, erstarrt und bemüht um Contenance. Eine schöne Einheitsfeier hätte es werden können, damals am 3. Oktober 1998 in Hannover. Acht Jahre Annexion, acht Jahre blühende Profitlandschaften und Umkehrung der Lebensverhältnisse auch jenseits der Elbe. Und jetzt: acht Takte dieser verfluchten Hymne. Ein munteres Potpourri war angekündigt, ein bunter Mix aus Schlagern, westdeutscher Siegerhymne, deren Melodie schon auf den Schlachtfeldern westlich von Langemarck und östlich des Don zu hören war, und dieser – wie hat die Springerpresse immer wieder gern gehetzt? – „Spalterhymne von Moskaus Gnaden“. Die CSU-Granden blieben gleich ganz daheim und verfolgten die Szene vom Fernsehgerät aus, die Lautstärke sicherheitshalber heruntergedreht. Andere fanden‘s geschmacklos, unverschämt oder gar kriminell, denn – so hieß es in einer Strafanzeige – die acht Takte „verunglimpfen den Staat und seine Symbole“. Nur der gastgebende SPD-Schröder freute sich: Seit wenigen Tagen Bundeskanzler in spe, war der „Hymnen-Mix“ für ihn Sinnbild der Volksgemeinschaft, eben ein im Bigband-Sound garnierter, mit 16 Streichern und Vokalisten angerührter Einheitsbrei.

Musik kann Hoffnung machen

13. September 1949, „Haus der Einheit“ in Berlin-Pankow, 3. Stock, Arbeitszimmer von Wilhelm Pieck: Punkt 4 der Besprechung des Politbüros der SED an diesem Tage war schnell geklärt. Das Protokoll hielt fest: „Genosse Ackermann wird beauftragt, mit dem Genossen Johannes R. Becher (handschriftlicher Einschub: und Hanns Eisler) über die Schaffung einer Nationalhymne zu sprechen – Frist: 1. Oktober“. Eine ehrgeizig gesetzte Frist, indes nichts besonderes in jenen bewegten Oktobertagen der ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden. Wenige Tage nach der Staatsgründung und am Vorabend seiner Wahl zum Staatspräsidenten fasst nun Wilhelm Pieck seine Gedanken zur Hymne in einem persönlichen Brief an Johannes R. Becher (10. Oktober 1949) zusammen: Drei Strophen, ein Refrain – handelnd von der Einheit Deutschlands. Die drei Verse inhaltlich gerichtet auf Demokratie und Kultur, Arbeit und Wohlstand und schließlich Völkerfreundschaft und Frieden.

Beim textlichen Grundmotiv der Hymne mag Johannes R. Becher an Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ gedacht haben: Im vierten Akt lässt der Dichter den freiheitsliebenden Attinghausen sagen „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, Und neues Leben blüht aus den Ruinen“. Becher zieht in seiner Rede zur Verleihung des Schiller-Preises am 9. Mai 1955 an Thomas Mann im Nationaltheater Weimar selbst die Parallele zwischen dem Entree der Hymne und dem Vermächtnis Schillers.

Kaum hatte Johannes R. Becher die Anregungen Wilhelm Piecks zur Kenntnis genommen, ging er an die Gestaltung der drei Strophen. Idealerweise hätte die Harmonisierung von Text und Melodie mit Hanns Eisler erfolgen sollen, doch der Komponist weilte noch in Wien und war nicht greifbar. Becher textete, veränderte, stellte um, verwarf. Insbesondere der Passus „Deutschland, einig Vaterland“ stand erst am Ende vieler Entwürfe fest. Der Kampf um die Einheit Deutschlands war für Becher gleichbedeutend mit dem Kampf um die Demokratisierung Deutschlands und den Frieden. In Ermangelung des Kontakts zu Eisler sandte er den Text an den Direktor der Musikhochschule Weimar, Ottmar Gerster. Antwort aus Weimar kam schnell. Gerster wurde auf den 4. November 1949 zum Vorspielen nach Berlin eingeladen. In der letzten Oktoberwoche brach Becher nach Warschau auf, um dort an den Feierlichkeiten zum 200. Todestag Johann Wolfgang von Goethes teilzunehmen. Just in Warschau eingetroffen, stieß Becher zu seiner Überraschung im Hotel Bristol auf Hanns Eisler, der zu den Feiern aus Wien angereist war. Ohne Zögern machte Johannes R. Becher den Komponisten mit dem aktuellen Text der geplanten Hymne bekannt. Und Becher sprach die dringliche Bitte aus, Eisler möge sich Gedanken über eine passende Melodie machen. Noch am gleichen Nachmittag besuchten Dichter und Komponist das unweit von Warschau, in Zelazowa Wola gelegene Geburtshaus von Frederic Chopin. Was dort geschah, entnehmen wir einer Notiz Eislers: „Ich hatte inzwischen eine Melodie gefunden. Und auf dem alten Flügel Chopins spielte ich ihm die Nationalhymne vor. Er war sehr erstaunt, dass es so rasch ging, und sagte: Ja, das müssen wir uns aber in Berlin noch überlegen.“

Musik kann Wirkung erzielen

Am Freitag, dem 4. November 1949, ernteten beide Kompositionen im Gebäude des Kulturbundes in der Berliner Jägerstraße großen Beifall. Becher machte es sich nicht leicht. Erneute Probe am darauffolgenden Tag in seiner Wohnung im Berliner Majakowskiring 34. Auch das Politbüro nahm teil. Beide Hymnen werden nunmehr durch Sänger der Berliner Staatsoper dargeboten. Wilhelm Pieck hielt das Ergebnis in einer nüchternen Notiz fest: „Vom Pol.büro wurde dem Text von Becher zugestimmt. Außerdem wurde die Komposition von Eisler angenommen“. Am 6. November proben Chor und Orchester des Berliner Rundfunks, am 7. November 1949 kommt die Nationalhymne der DDR bereits erstmals beim Staatsakt zu Ehren des 32. Jahrestags der Oktoberrevolution in der Staatsoper zur konzertanten Aufführung. Das Publikum, samt der sowjetischen Gäste, erhoben sich und stimmten ein.

Eisler und Becher war in kürzester Zeit ein nicht nur politisch und musikalisch stimmiges, sondern vorwärtsweisendes Werk gelungen. Das melodische Eingangsmotiv – jene Takte, die 1998 fast die Einheitsfeier zu Fall gebracht haben –, nimmt eine Tonfolge auf, die Ausgangs des 18. Jahrhunderts wegen ihrer Eingängigkeit gerne eingesetzt worden ist. Man findet jenes Motiv sowohl in Mozarts Streichquintett KV 516, 3. Satz oder in Beethovens Bagatelle Opus 119, No. 11.

„Auferstanden aus Ruinen“ – Die Melodie in gefälligem 2/4- Takt, der Mittelteil der Hymne durch einen 2/8-Auftakt beschleunigt, vorwärtsdrängend; zum Ende hin wieder verhalten, langsamer (A-B-A). Die Tonart in F-Dur – jene Tonart, die bekannt ist für ihre Eignung, „die schoensten Sentimente von der Welt zu exprimiren“ (Johann Mattheson, 1713). Einprägsame Tonfolge, übersichtliche Tempi, jede Strophe mit zwei Kreuzreimen (a b a b), klarer Text und optimistische Perspektive waren Garant für Kantabilität und die wachsene Popularität der Hymne.

Als die DDR in ihrem zwanzigsten Jahr aus gutem Grund und selbstbewusst die Idee der Einheit Deutschlands aus ihrer Verfassung strich, fortan auch das Radio der Republik nicht mehr „Deutschlandsender“, sondern „Stimme der DDR“ hieß, verlor auch die Hymne ihren Text, nicht aber ihre Bedeutung. Sie wurde wortlos, sprachlos war sie nie.

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"Musik kann weh tun", UZ vom 27. September 2019



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